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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Sumgait - 35 Jahre danach

28. Februar 2023

Am 28. und 29. Februar 1988 fanden in der aserbaidschanischen Industriestadt Sumgait (aserbaidschanisch: Sumqayıt), ungefähr 30 Kilometer nordwestlich von Baku am Ufer des Kaspischen Meeres gelegen, schwere Ausschreitungen statt. Bewaffnete Banden zogen durch die Stadt, töteten, verwüsteten, vergewaltigten, wobei sie gezielt nach armenischen Bewohnern Ausschau hielten. Die Art und Weise, in der zahlreiche der Opfer misshandelt und zu Tode gebracht wurden, ist von einer kaum beschreibbaren Grausamkeit und kann in den entsprechenden Gerichtsakten nachgelesen werden.

Nach offiziellen sowjetischen Angaben, denen sich ein Großteil der Sekundärliteratur angeschlossen hat, betrug die Zahl der Todesopfer 32. 26 davon waren Armenier, 6 Aserbaidschaner. Wohl Hunderte von Menschen wurden verletzt.

Zahlreiche der Täter konnten später von der sowjetischen Justiz dingfest gemacht werden. Es kam zu 84 Verurteilungen. Ein Mann, Әhmәd Әhmәdov, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die allermeisten der Täter waren ethnische Aserbaidschaner, mindestens einer, Eduard Grigorjan, ein ethnischer Armenier.

Im Gefolge der Ereignisse von Sumgait wurden diese vor allen Dingen von der armenischen Seite im Konflikt mit Aserbaidschan als Argument für politische Ansprüche aufgebaut. Ein Großteil der armenischen Darstellungen (unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um persönliche Erinnerungen, journalistische Beiträge oder Texte mit wissenschaftlichem Anspruch handelt) stellt die Vorfälle als einen Ausbruch antiarmenischen aserbaidschanischen ethnischen Hasses dar. In etlichen Propagandabeiträgen wird das Geschehen sogar in eine Kontinuität mit dem 1915 von den Jungtürken begonnenen Massenmord an den Armeniern des Osmanischen Reiches gestellt. Ein typisches Beispiel ist der im Jahr 2010 entstandene armenische Propagandafilm „Sumgait, Februar 1988. Der übliche Genozid“ (Grigorjan 2010). Ein entscheidendes Element armenischer Darstellungen der jüngeren Geschichte des Südkaukasus ist die Instrumentalisierung der Ereignisse von Sumgait zur Begründung armenischer Ansprüche auf aserbaidschanisches Territorium, speziell in Karabach.

Eines der gängigen Muster armenischer Geschichtskonstruktionen funktioniert dabei so, dass man behauptet, die Viktimisierung von Armeniern am 28. und 29. Februar in Sumgait habe der armenischen Seite keine andere Wahl gelassen, als solche Ansprüche zu stellen, weil andernfalls die Armenier in Karabach (der damals am stärksten von Armeniern bewohnten Region Aserbaidschans) vor der Verfolgung oder sogar Vernichtung durch die Aserbaidschaner nicht sicher gewesen wären. Diese historisch unhaltbare These enthält die Unterstellung, dass in einem Gebiet, wo Armenier eingeschlossen von Aserbaidschanern oder unter aserbaidschanischer Administration leben, früher oder später unerträgliche Gewaltmaßnahmen gegen die Armenier beginnen, die bis zum Genozid gehen können. Diese Theorie beinhaltet mehrere zutiefst rassistische Annahmen. Sie geht nämlich einerseits davon aus, dass es so etwas wie einen unveränderlichen, sich überall annähernd gleichen Wesenskern dessen gebe, was „Armenier“ oder „Aserbaidschaner“ ausmachten, und zwar unabhängig von den konkreten kulturellen Bedingungen. Und sie präsupponiert zweitens, was viel furchtbarer ist, dass die Aserbaidschaner sich am Ende immer als Bösewichte und Bestien erweisen, wenn man sie nur lässt. Das Perfide dabei ist, dass dieser strukturelle Rassismus als Voraussetzung zum Schutz einer bedrohten Minderheit vor ethnischer Verfolgung (also potentiell einer anderen Form des Rassismus) ausgegeben wird.

Die Absurdität dieser Art von Konstruktionen ist evident. Die Ereignisse von Sumgait als „Genozid“ mit den ab 1915 von den Jungtürken an den Armeniern verübten Verbrechen gleichzusetzen, läuft auf die Behauptung hinaus, die gezielte Elimination einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus Hunderttausenden von Menschen durch Talat Pascha und seine massenmörderischen Spießgesellen mit der Behandlung der Armenier unter sowjetischer Herrschaft im Südkaukasus gleichzusetzen. Bei allem, was man den Sowjets sonst noch vorwerfen mag, wäre dieser Vergleich doch absolut irrwitzig. Es hat unter sowjetischer Herrschaft niemals etwas gegeben, dass dem von den Armeniern im Osmanischen Reich Erlittenen auch nur annähernd gleichgekommen wäre.

Was die Behauptung betrifft, die Ereignisse von Sumgait hätten die armenischen Ansprüche auf Karabach und andere Gebiete Aserbaidschans begründet oder mit ihnen habe der spätsowjetische armenisch-aserbaidschanische Konflikt erst angefangen (diese alte Lüge wiederholte noch ein gewisser Wladimir Putin im Jahr 2020, siehe Putin 2020), so braucht man nur einen kursorischen Blick auf die Vorgeschichte des Horrors von Sumgait zu werfen, um ihre Falschheit zu erkennen.

Dabei sieht mal Folgendes: Von einer Welle des sentimentalen, überbordenden und unkontrollierten armenischen Nationalismus und Chauvinismus getragen, der sich in der Sowjetunion spätestens ab 1987 in Massenkundgebungen und anderen politischen Aktionsformen offen artikulierte, hatte der Regionalrat (russisch: oblastnyj sovet oder oblsovet) von Aserbaidschans Autonomer Oblast Berg-Karabach (russisches Kürzel: NKAO) am 20. Februar 1988 eine gedrechselt formulierte Erklärung veröffentlicht, die es aus Furcht vor der klar antiseparatistischen Haltung der Moskauer Führung zwar vermied, offen den Anschluss der Autonomen Region an die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik zu fordern, die aber auf genau einen solche Anschluss abzielte. Und sie wurde in Armenien und von den Armeniern in Karabach auch genau auf diese Art verstanden. Auf die Erklärung vom 20. Februar 1988 folgten Massendemonstrationen, bei denen allein in Eriwan zeitweise mehr als eine Million Menschen auf die Straße ging. Natürlich erhitzte sich auch in der NKAO und ihrer unmittelbaren Nähe die Stimmung zwischen den Volksgruppen.

Am 22. Februar trafen eine Gruppe Aserbaidschaner und eine Gruppe Armenier in der Nähe der Stadt Asgeran (aserbaidschanisch: Әsgәran) aufeinander. Dabei ermordete der Armenier .Վիտալի Բալասանյան Vitali Balasanyan zwei Aserbaidschaner, Bәxtiyar Quliyev und Әli Hacıyev. Balasanyan wurde später zum „Held des armenischen Volks“ ernannt.

Die Zeichen waren also längst auf ethnischen Hass gestellt worden, lange bevor die Ereignisse von Sumgait ihren entsetzlichen Verlauf nahmen. Und eine der Hauptursachen dieser Erhitzung war der nationalistische, träumerische Überschwang von Armeniern gewesen, in naiver Verblendung befeuert von nationalistischen Intellektuellen und Schriftstellern wie Սիլվա Կապուտիկյան Silva Kaputikyan (*1919-2006).

In den 35 Jahren, die seit der Tragödie von Sumgait vergangen sind, sind immer neue Theorien über deren mögliche Hintermänner und Ursachen geäußert worden. Für den Außenstehenden ist es allerdings außerordentlich schwierig, sich ein unvoreingenommenes Bild zu machen. Es gibt keine gemeinsame armenisch-aserbaidschanische Geschichtsschreibung, die im Dialog imstande wäre, Fakten klarzustellen und Widersprüche auszuräumen. Das Postulat der Neutralität und Objektivität scheitert in der Praxis daran, dass sich zu wenige ausländische Experten mit dem Thema befassen und dass zudem der ausgewogene Zugang zu Quellen und Informanten immer noch außerordentlich schwierig ist. Hinzu kommt, dass die Aussagen von Augenzeugen des Gewaltausbruchs von Sumgait sich oft irren. Sie verwechseln Tage, übertreiben Angaben, erfinden Opfer. Diese Widersprüche auszuräumen ist schwierig und aufwändig.

Es gibt jedoch auch einige offen zugängliche und einfach zu erkennende Tatsachen, die klare Hinweise auf zumindest einen Teil dessen geben, was hinter den gewaltsamen Ausschreitungen steckte. Dass diese Unruhen keineswegs spontan, beispielsweise aufgrund einer angeblichen natürlichen Disposition des aserbaidschanischen Volks zum Genozid (trotz seiner Lächerlichkeit ist dieser Topos der armenischen Propaganda immer noch weit verbreitet und erfolgreich) ausbrachen, wurde schon erwähnt. Sie waren zu einem Teil das Ergebnis einer seit Monaten kontinuierlich und systematisch geschürten Woge der ethnisch-nationalistischen Entgrenzung und des Hasses. Doch die Gewalt wurde auch sehr direkt und offen von den Justizbehörden der sowjetischen Zentralmacht geschürt.

Am Abend des 27. Februar 1988 traf der Militärische Chefstaatsanwalt der Sowjetunion (Glavnyj voennyj prokuror SSSR), der zugleich Stellvertretender Generalstaatsanwalt der Sowjetunion (zamestitel´ General´nogo prokurora SSSR) war, Aleksandr Filippovič Katusev (1939-2000), in Sumgait ein. Das Timing ist hierbei von zentraler Bedeutung. Zur Erinnerung: Die eigentliche Gewalt, die ersten Toten, gab es in Sumgait erst ab dem 28. Februar. Auch wenn die Stimmung in der Stadt bereits seit dem 26. Februar durch Reden und Versammlungen, allerdings mit offenbar nur wenigen Dutzend Teilnehmern, öffentlich angeheizt worden war (möglicherweise von agents provocateurs) und obwohl für den 27. bereits kleinere gewaltsame Zwischenfälle berichtet werden (von denen aber unklar ist, ob sie sich nach dem Eintreffen des Staatsanwalts ereigneten), war zum Zeitpunkt von Katusev Ankunft die Dimension, die die Ereignisse annehmen würden, noch überhaupt nicht absehbar.

Nach seiner Ankunft in Sumgait trat Katusev um 18 Uhr 45 lokaler Zeit im aserbaidschanischen Staatsfernsehen auf. In der Sendung erwähnte er namentlich die beiden Aserbaidschaner, die am 22. Februar von dem Armenier ermordet worden waren. Der englische Journalist Thomas de Waal, dem man sicherlich keine allzu große Nähe zu aserbaidschanischen Positionen wird nachsagen können (in seinem bekannten Buch „Black Garden“ stützt sich bei seiner Darstellung der Tragödie von Sumgait ausschließlich auf armenische Gewährsleute, die lange nach den Ereignissen berichteten) schrieb dazu, dass Katusev mit seinem Auftritt „ein Streichholz an ein Pulverfass legte“ („was putting a match to a tinderbox”, De Waal 2013 [2003]: 34).

Niemand kann die Tatsache des Auftritts Katusevs oder den Inhalt dessen, was er sagte, bestreiten, denn es gibt viel zu viele Möglichkeiten, all dies unabhängig zu bestätigen.

Was bleibt, sind Fragen: Was machte einer der höchsten Repräsentanten des Justizapparates der Sowjetunion (also des ganzen riesigen Landes im Unterschied zur Sowjetrepublik Aserbaidschan) abseits der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, in Sumgait, zu einem Zeitpunkt, wo sich dort noch nichts ereignet hatte, das die Anwesenheit oder das Eingreifen der obersten Vertreter des Rechtsapparates der SU unvermeidlich gemacht hätte? Warum nutzte Katusev, die Möglichkeit seines öffentlichen Auftritts (der, wie alle Fernsehauftritte, natürlich vorher geplant worden sein musste) nicht dazu, die Situation zu beruhigen? Er hätte die Spannungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern mit Appellen an die sowjetische „Bruderschaft der Völker“ zu besänftigen versuchen können oder zumindest herausstreichen können, wie sinnlos und schädlich Gewalt für beide Seiten war.

Wenn ich versuche, mir selbst eine Antwort auf diese Fragen zu geben, dann scheint es mir eher unwahrscheinlich, dass Katusev zufällig ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt im Sumgait gewesen sein und das gesagt haben sollte, was er nun einmal sagte. So funktioniert kein Justizapparat der Welt, so agieren keine hochqualifizierten Juristen in wichtigen Funktionen. Sie erscheinen in der Regel nicht zufällig an wichtigen Orten und machen zufällig Aussagen, deren Tragweite sie nicht abschätzen können. Wenn man nun aber annimmt, dass Katusev absichtsvoll nach Sumgait reiste und im Fernsehen auftrat, lässt das für mich nur einen Schluss zu: Teil der sowjetischen Justiz waren daran interessiert, die ethnischen Spannungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern weiter zu eskalieren, und sie trugen aktiv und gezielt dazu bei.

Vor dem Hintergrund von Katusevs Eingreifen in das Geschehen erscheinen die Ereignisse von Sumgait nicht nur als Folge der sich in den Monaten vorher aufgebaut habenden allgemeinen Spannung unter ethnischen Vorzeichen und einer bewussten Instrumentalisierung dieser Spannung durch Moskauer Kreise, die Katusev vertrat (oder die im Zweifelsfall aus ihm selbst bestanden, was aber erneut eine unwahrscheinliche Annahme ist, da sie voraussetzen würde, im sowjetischen Behördenapparat hätten Funktionäre nach Art von lone wolves einfach Entscheidungen treffen und Veränderungen herbeiführen können). Vielmehr wurden sie von Teilen des zentralen sowjetischen Behördenapparats bewusst provoziert.

Diese Interpretation erscheint mir auch dann logisch, wenn man sich fragt, warum Katusev beziehungsweise bestimmte Moskauer Kreise ein Interesse daran gehabt haben könnten, den Hass zwischen Armeniern und Aserbaidschanern wieder groß zu machen. Diese Haltung entspricht dem Grundprinzip jeglichen Imperialismus, so auch des russischen: Teile und herrsche. Je größer die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen wurden, desto größer wurden die Handlungsmargen der sich als Sicherheitsmacht aufspielenden imperialistischen Zentrale.


Der heutige 28. Februar 2023 ist nicht nur der 35. Jahrestag des grausamen Höhepunkts der Unruhen von Sumgait. Heute Morgen meldete der Deutschlandfunk auch, dass Putins Russland das Sacharov-Institut in Moskau geschlossen habe. Dies gibt Anlass zu einem kleinen Epilog.

Der Name Sacharow wird den meisten der heute unter 30-Jährigen mit Sicherheit nichts sagen, war in der fernen Zeit, als ich noch unter 30 war, in aller Munde. Andrej Dmitrievič Sacharow (1921-1989) war einer der angeblich brillantesten sowjetischer Physiker und gilt als der „Vater der Sowjetischen Wasserstoffbombe“. Zugleich galt er als Menschenrechtsaktivist und erhielt 1975 den Friedensnobelpreis. Als kleiner Junge habe ich mich immer gefragt, wie das eigentlich zusammenging: Eine Massenvernichtungswaffe konstruieren, die die gesamte Menschheit auszulöschen imstande ist, und dann wegen eines Beitrags zum Frieden gefeiert werden. Aber offenbar geht das.

Am 21. März 1988 schrieb Sacharow einen offenen Brief an Michail Gorbatschow, den damals immer noch mächtigsten Mann der Sowjetunion. In dem Brief machte der wasserstoffbombenbauende Friedensengel sich zentrale Punkte armenischer Geschichtsmythen zu eigen. So phantasierte er, dass die NKAO „1923 mit der Aserbaidschanischen SSR wiedervereinigt worden“ sei (Avtonomnaja nacional´naja oblast´ Nagornyj Karabach byla prisoedinena k Azerbajdžanskoj SSR v 1923 g), ungeachtet der Tatsache, dass die NKAO erst 1921 beziehungsweise 1923 GEGRÜNDET wurde und außerdem niemals mit Aserbaidschan hatte „wiedervereinigt“ werden können, weil sie immer dessen Teil war (Sacharov 1988: 19). Er machte sich auch weitere Grundbestandteile der armenischen Interpretation von Geschichte und Gegenwart Karabachs zu eigen. Unter anderem griff er den oben diskutierten Genozidfortführungsmythos auf, indem er davon sprach, dass die Ereignisse von Sumgait „nolens volens an das Jahr 1915 erinnerten“ (vol´no ili nevol´no napminajuščie 1915 god, Sacharov 1988: 20).

Dass eine international so angesehene Figur wie Sacharow sich die armenische Deutung der Geschehnisse von Sumgait und überhaupt die armenische Sicht auf Karabach zu eigen machte, kann man wohl als einen der größten Propagandacoups der armenischen Nationalisten und Separatisten in dem Konflikt mit Aserbaidschan bezeichnen. Auch wenn die von Sacharow, der kein Historiker war und sich nie näher mit der Geschichte des Südkaukasus beschäftigt hatte, nachgesprochenen Behauptungen seiner armenischen Stichwortgeber keinerlei Überprüfung standhalten, wirkte sein Prestige gerade außerhalb der postsowjetischen Welt beträchtlich. Ein Wissenschaftler und Friedensnobelpreisträger engagierte sich für die Armenier. Das konnte leicht übersetzt werden, als ob die Darstellungen der Aserbaidschaner eher unwissenschaftlich seien und ihre Handlungen zu den Menschenrechten quer lägen.

Was für mich von Sacharow bleibt, ist ein sehr merkwürdiger, zwielichtiger Eindruck. Was war er für eine Persönlichkeit? Hatte er eine Persönlichkeit? Kann jemand, der zwei so scheinbar unvereinbare Dinge in sich vereint wie die Bau einer Massenvernichtungsbombe und die höchsten Weihen der Friedensbewegtheit, etwas anderes sein als schizophren? Sein undurchdachter offener Brief an Gorbatschow zeigt zumindest, dass er es nicht immer genau nahm mit dem, wofür er sich engagierte.

Dass heute das Sacharow-Institut geschlossen wurde, hat scheinbar nichts mit irgendwelchen Positionen zu tun, die Sacharow jemals innehatte. Oder doch? Putins Russland ist aus panischer Angst vor dem offenen Durchdringen der Wahrheit über seine Verbrechen dabei, auch noch die letzten kleinen Schlupflöcher der Meinungsfreiheit und unabhängiger öffentlicher Diskurse zuzustopfen, zu deren kümmerlichen Überresten auch das Sacharow-Institut gehörte. Die Lügenwelt, in die Putin Russland seit seinem Machtantritt verwandelt hat, hat viel mit der Weigerung und der Unfähigkeit der russischen Gesellschaft zu tun, sich auf eine faktenbasierte Weise mit den Schrecken ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eines der ersten Dinge, die Putin unterband, war bekanntlich die Aufarbeitung der Jahrhundertverbrechen des sowjetischen Kommunismus. Statt sich dieser grausamen, elenden, schmutzigen und verbrecherischen Seite der Geschichte zu stellen, führt Putin ein pseudohistorisches Kasperletheater über russische Geschichte auf, in dem er selbst als gelifteter Operettenzar durch goldverzierte Säle stolziert. Diese Propagandawelt der russischen Geschichte hat etwas gemeinsam mit der Art und Weise, wie sich Sacharow die Geschichte Südkaukasiens in seinem offenen Brief an Gorbatschow zurechtlegt. Der Mythos dominiert darin über die Nüchternheit der Fakten und der Chronologie. Der Sacharow von 1988 und der Putin von 2023 haben gemeinsam, dass sie unverbesserliche Romantiker und Mythologen sind, egal mit welchen Folgen.

Quellen

De Waal 2013 [2003]. De Waal, Thomas: Black garden. Armenia and Azerbaijan through peace and war. New York, London: New York University Press.

Grigorjan 2010. Grigorjan, Marina: Sumgait, Fevral´, 1988: Obyknovennyj genocid. Eriwan: Centr informacii i obščestvennych svjazej. Https://www.youtube.com/watch?v=JcsgQuyeowg [besucht am 25 Februar 2023].

Putin 2020. Vladimir Putin: Otvety na voprosy SMI po situacii v Nagornom Karabache. [Interview with Vladimir Putin on the website of Echo Moskvy, dated February 18, 2020] Https://echo.msk.ru/blog/echomsk/2743652-echo/ [downloaded am November 20, 2020].

Sacharov 1988. Sacharov, Andrej: Otkrytoe pis´mo M. S. Gorbačevu. In: Zoljan, S. T./ Mirzojan, G. K. (Hgg.): Glazami nezavisimych nabljudatelej: Nagornyj Karabach i vokrug nego… Sbornik Materialov. Eriwan 1990: Erevanskij Gosudarstvennyj Universitet. 19f.

Quelle des Bildes:

https://defence.az/en/news/140676/sumgayit-1988-events-part-of-plan-to-seize-azerbaijans-territory,-says-analyst [downgeloaded am 28. Februar 2023].