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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Lücken, Widersprüche, Tendenziosität: Nichts Neues über Karabach vom ZDF

6. Februar 2023

Die ZDF-Korrespondentin Nina Niebergall widmet sich in einem am Sonntag (5. Februar) online gestellten Beitrag dem Thema Karabach. Wie praktisch alle deutschen Medienberichte zum Thema stellt sich der öffentlich-rechtliche Sender konsequent hinter die Sicht der Armenier auf den Charakter und die Genese des Konflikts.

Dies wird schon an dem Satz „Das weitgehend von Armeniern besiedelte Gebiet unterstand einst armenischen Fürsten, ehe es Anfang des 19. Jahrhunderts an das russische Zarenreich fiel.“ deutlich, für die man Belege wohl nur in von Armeniern geschriebenen Geschichtsbüchern finden wird. Bis zu dem Zeitpunkt, als Russland das Gebiet der späteren „Autonomen Oblast Berg-Karabach“ (NKAO) faktisch (1806) und de jure (1822) auflöste, existierte dort als unabhängiger Staat das um 1747 gegründete Khanat Karabach, deren Herrscher Muslime waren und Aserbaidschanisch sprachen. Das einzige Herrschaftsgebilde in der Gegend, die man mit großem Wohlwollen (für die armenische Sicht der Dinge) theoretisch zu einem Teil als „armenisch“ bezeichnen könnte, war der als Fünferbund (Khamse) bekannte Zusammenschluss Karabacher Kleinfürstentümer (sogenannter Meliktümer, das Wort ist arabisch-persischer oder arabisch-persisch-aserbaidschanischer Herkunft, ebenso wie „Khamse“). Dieser regionale Zusammenschluss hatte vor allem in der politisch höchst turbulenten Zeit zwischen dem Untergang der Safawidendynastie (1736) und dem Tod Nadir Schahs (1747) eine gewisse lokale und ephemere Bedeutung, bevor dann um 1750 der Khan von Karabach die Kleinfürstentümer unterwarf. Zu der in der proarmenischen Geschichtsschreibung immer wieder als angeblicher Beleg für vor der russischen Eroberung vorhandene armenische Staatlichkeit auf Karabacher Gebiet dargestellten Episode der Meliktümer ist notwendigerweise zu ergänzen, dass die politische und militärische Bedeutung jener Kleinstaaten im Wesentlichen davon abhing, dass der mit weitgehenden Eroberungsplänen ausgestattete Nadir Schah (der selbst auch Muslim war und eine dem Aserbaidschanischen eng verwandte Sprache sprach) sie gegen die mit ihm konkurrierenden aserbaidschanisch-muslimischen Stämme und Fürsten der Gegend stärkte und instrumentalisierte. Hinter die angebliche Unabhängigkeit der Meliktümer muss man also ein großes Fragezeichen setzen.

In der von Frau Niebergall entgegen all dieser Tatsachen behaupteten Ansicht, dass das „Gebiet“ (das spätere Bergkarabach) armenischen Fürsten unterstanden habe, kommt abgesehen davon nicht vor, dass außerhalb der wenigen Jahre prekärer und von Nadir Schahs Gnade abhängiger politischer Aktivität der Meliktümer (in der Zeit von vielleicht 1736 bis 1750) und der russischen Eroberung über Jahrhunderte hinweg nicht ein einziges Mal so etwas wie armenische Herrschaft dort existierte. Die Korrespondentin ignoriert die lange Phase der safawidischen (auch eine muslimisch-turksprachige Dynastie) Herrschaft (1501-1736) ebenso wie den Umstand, dass die Gegend spätestens ab dem 14. Jahrhundert wesentlich von den sprachlichen Vorfahren der heutigen Aserbaidschaner geprägt worden war. Niebergall folgt somit der in der armenischen Geschichtsschreibung weitverbreiteten Strategie des Anachronismus, bei der weit zurückliegende, lokal begrenzte, ephemere und oft unbedeutende Phasen „armenischer“ Herrschaft ungleich höher bewertet werden als kürzere Zeit zurückliegende und zeitlich ausgedehntere Phasen aserbaidschanisch-muslimischer Herrschaft.

Sehr merkwürdig ist in dem ZDF-Beitrag auch der Satz „Mit Gründung der Sowjetunion wurde das Gebiet aufgeteilt. 1923 fiel ein Teil an die aserbaidschanische Sowjetrepublik, das Kernland wurde ein autonomer Bezirk.“ Der Kontext legt nahe, dass der Referent von „das Gebiet“ „Bergkarabach“ sein soll. Wenn der zitierte Satz stimmen soll, dann müsste „Bergkarabach“ nach der Gründung der Sowjetunion (1922) aufgeteilt worden sein, und ein Teil des aufgeteilten Gebiets wäre dann zum „autonomen Bezirk“ geworden. Tatsächlich wurde das Autonome Gebiet (beziehungsweise die Autonome Oblast) Berg-Karabach zwischen 1921 und 1923 jedoch nicht aufgeteilt, sondern erstmalig konstituiert. Und weder ein Teil dieser Autonomen Oblast noch irgendeins der sie umgebenden Gebiete „fiel“ an die aserbaidschanische Sowjetrepublik, sondern sie waren allesamt immer Teil der aserbaidschanischen Sowjetrepublik beziehungsweise von deren Vorgängerin, der Demokratischen Republik Aserbaidschan (1918-1920) gewesen. Niebergalls Satz ist aber auch in sich widersprüchlich. Denn wenn einerseits das ganze „Gebiet“ „Bergkarabach“ sein soll, ist nicht ersichtlich, wie dann dessen „Kernland“ zum „autonomen Bezirk“ geworden sein soll. Denn „Bergkarabach“ und die NKAO, also der autonome Bezirk, waren praktisch ein und dasselbe. Oder meint Frau Niebergall etwa, dass nach der Errichtung der Sowjetunion auch die die NKAO umgebenden Gebiet erst an die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik „fiel“? Das würde den historischen Tatsachen noch klarer widersprechen, wäre aber im Sinne der proarmenischen Geschichtsauffassung des ZDF nur konsequent.

Zu den folgenschweren Oberflächlichkeiten und Inkonsequenzen des Beitrags gehört auch, dass der 1968 geborene Ռուբեն Կառլենի Վարդանյան Ṙuben Karleni Vardanyan (russische Namensform: .Ruben Karlenovič Vardanjan ohne Anführungszeichen als Staatsminister von Bergkarabach durchgehen darf, während Niebergall an anderer Stelle immerhin vollkommen korrekt hervorhebt, dass es so etwas wie einen „Staat“ Bergkarabach nicht gibt und niemals gegeben hat und dass nicht einmal Armenien ihn anerkannt hat. Wie kann man Staatsminister von etwas sein, das kein Staat ist? Es passt auch hier ins Bild, dass das ZDF Herrn Vardanyan zwar mit dem falschen und ehrenden Beiwort „Staatspräsident“ ausstattet, aber kein Wort über die Herkunft und die Umstände dieses russo-armenischen Geschäftsmanns verliert, der Russland offenbar im Gefolge von Putins Aggressionskrieg verlassen hat, um in der Separatistenblase in Karabach eine neue Wirkstätte zu finden.