Kasachstan revisited
Zwischen 2016 und 2020 war ich insgesamt rund ein Dutzend Male in Kasachstan, so gut wie ausschließlich in Almaty, der alten Hauptstadt, die aber immer noch das wirtschaftliche und kulturelle Herz des Landes ist.
Jetzt war ich zum ersten Mal wieder da. Was hat sich geändert, was ist gleich geblieben? Es folgen einige spontane Eindrücke.
Preise
Vor einigen Jahren war ein Euro meist um die 350 Kasachische Tenge wert, mittlerweile sind es ungefähr 470. Um mit einem „Taxi“ – also irgendjemandem, der ein Auto besitzt und gegen Geld Leute mitnimmt – von der Kreuzung Abayprospekt/Žarokovstraße in das Viertel „Freundschaft“ (Dostïq, Družba) zu fahren, eine ziemlich weite Strecke reichten damals meistens 500-600 Tenge, selten mehr, und definitiv nie waren es mehr als 1000.
Heute fangen die Preise für die wesentlich kürzere Strecke von der Kabanbay Batïr-Straße zur Timiryazev-Straße bei 1000 Tenge an, steigen aber bei hohem Kunden- und geringem Taxifahrerangebot leicht auf über 3000 Tenge an. Als aus der APP „ID“, die Fahrer und Mitfahrer verbindet, einmal das Angebot „3300“ kam, beschloss ich, die Hälfte des Weges zu Fuß und dann mit der U-Bahn (80 Tenge) weiterzufahren.
Es gibt immer noch die billigen U-Bahnen, Busse und O-Busse, aber mit Ausnahme der U-Bahn sind diese Verkehrsmittel eher unkomfortabel, und man muss sich gut über die Strecken informieren, wenn man ankommen will. Ansonsten illustrieren die „Taxi“-Beispiele für mich einen dramatischen Preisanstieg in bestimmten Segmenten. Während der Tenge ungefähr ein Drittel seines Werts verlor, stiegen die Preise beim „Taxi“-Fahren gleichzeitig auf mindestens das Doppelte.
Einen Schock bekam ich auch, als ein Obsthändler (zugegeben, in einem yuppiehaften Luxusviertel um die obere Želtoqsan-Straße) sage und schreibe 6000 Tenge (ca. 13 Euro) für ein Kilo Feigen wollte. Ich glozte ihn nur an und ging weiter.
Es stimmt wohl, dass bestimmte Dinge, wie Benzin, billig sind. Aber es gibt einen deutlichen Reichtumsunterschied zwischen den vermutlich wenigen, die sich Feigen für 13 Euro das Kilo, einen 0,5-Liter-Smoothie mit zwei Kugeln Eis für 4500 Tenge (ich gebe es zu, ich war´s) oder zwei-, dreimal Taxifahren am Tag für jeweils 2-4 Euro leisten können.
Digitalisierung
Sie ist einer der Gründe, warum ich Angst davor habe, nach Deutschland zurückzukehren. Angst vor irgendwelchen Bürokratie-Selbstzweck-Tempeln und Kafka-Reenactment-Behörden, wo man wochen- oder monatelang auf Termine oder Bearbeitung oder irgendwas wartet und sein halbes Nervenkostüm verliert, weil die ganze Bürokratie nicht so funktioniert, wie sie funktionieren sollte, sondern so, wie sie schon immer (schlecht und recht) funktioniert hat und stolz darauf ist. In Kasachstan funktionieren, so sagte man mir, alle staatsbürgerlichen und finanziellen Transaktionen nur noch über eine Instanz: das Handy. Man geht irgendwo hin, die Leute halten das Handy hin und kaufen Obst, fahren U-Bahn, man fährt, wie gesehen, „Taxi“ damit und so weiter.
Nicht nur gibt es so gut wie für alles Apps, sondern man bekommt sie auch ständig angeboten, sie werden auf dem Handy selbst und in der Stadt beworben. Und die kasachischen Apps, die ich bisher benutzt habe, sind wundervoll intuitiv und benutzerfreundlich. Wenn ich das mit dem Prozedere des Online-Ticketkaufs für die Buchmesse in Frankfurt vergleiche, verstehe ich, was die Ära Merkel Deutschlands Dynamik angetan hat. Ein kasachischer Professor erzählte mir übrigens, dass die Zahl der in Kasachstan lebenden Deutschen nach der postsowjetischen Delle in den letzten Jahren wieder angestiegen sei.
Bücher
Bei einem meiner ersten Besuche in Almaty stieß ich vor einigen Jahren in einem Einkaufszentrum auf eine (wohl die erste) kasachische Übersetzung des „Da Vinci Codes“, die ich natürlich sofort kaufte, weil mir so etwas noch nie untergekommen war. Später verschenkte ich das Buch und sah es nie wieder. Trotz intensiver Suche in diversen kasachischen Buchläden konnte mir niemand mehr diesen Titel besorgen. Auch sonst war das Angebot an übersetzter Weltliteratur ziemlich gering und bestand zu einem großen Teil aus Agatha Christie.
Heute fand ich in dem großen Buchgeschäft „Meloman“ nahe der U-Bahn-Station Žibek Žolï (Seidenstraße) spontan besagten „Da Vinci Code“ (von einem anderen Verlag) sowie diverse Übersetzungen anderer Werke der Weltliteratur, zwar nicht Regale voll, aber sicher einige Dutzend, darunter relativ aktuelle, wenn auch nicht topaktuelle Titel.
Die Geschwindigkeit und der Umfang von Übersetzungen sowie die Aktualität der übersetzten Werke waren für mich immer ein Merkmal für die Lebendigkeit der literarischen Szene und damit der Sprache und damit der Kultur und damit des Landes. Kasachstan scheint auch hier auf einem guten Weg zu sein. Ich kaufte bei „Meloman“ zwei Romane von Stephen King, den ersten Band des „Herrn der Ringe“ und „Im Westen nichts Neues“.
Russische Emigranten?
Mag sein, dass der korpulente Herr, der wie eine Mischung aus Rjurikidenfürst und einer Figur aus einer russischen Komödie des 19. Jahrhunderts wirkte und schlurfenden Schrittes im „Central´ynj Gastronom“ nur einen einzigen Artikel kaufte, nämlich ein Borodinskibrot, Putin-Fallout war. Er wirkte gebrochen, phlegmatisch und irgendwie fehl am Platz. Aber das kann auch nur Einbildung sein. In Almaty sprachen immer schon viele Leute Russisch, und viel mehr ist deren Zahl auf den ersten Blick nicht geworden.
Sanktionen?
Früher gab es immer sagenhafte Hautcremes der russischen Marke „Čistaja linija“ (reine Linie). Nachdem ich in gefühlt einem Dutzend Apotheken danach gefragt hatte, hieß es in der (gefühlten) dreizehnten, die Produkte dieser Firma seien in Russland vom Markt genommen worden. Kann schon sein, dass das irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt.
Sprache
Die Kasachen haben sich vor einigen Jahren mal wieder ein neues Alphabet gegeben, diesmal ein lateinisches. Na gut, man will irgendwie ein Gegengewicht zum kyrillischen Alphabet schaffen, wohl irgendwie näher an den Westen oder die Türkei rücken. Aber richtig durchgesetzt hat sich die neue Schrift nicht, praktisch keine Texte, die aus mehr als einer Zeile bestehen (in der Regel nur Namen von Geschäften, Restaurants und so weiter) sind darin geschrieben. Für mich macht es einen im Vergleich zu allen Alphabeten, die es für Kasachisch bisher gemacht hat, einen der kompliziertesten Eindrücke. Einzelheiten spare ich mir hier.
Insgesamt wirkt Kasachstan wie eine Oase des Aufbruchs und des Friedens. Ja, auch 31 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist deren Erbe immer noch und überall sichtbar, spürbar, erahnbar. Aber es paart sich mit einer ungemein dynamischen, digitalisierten, pragmatischen und (sprachlich) immer kasachischeren Ära. Sicher, es gibt massive ökonomische Probleme. Doch man spürt, wie sich eine neue Zeit ihren Weg bahnt, die immer weiter weg von der sowjetischen Vergangenheit führt.
Am deutlichsten spürte ich das in meiner Lieblings-Kantinen-Kette, „Qaġanat“ (Kaganat). Das Essen ist immer noch so lecker wie vor vier, fünf Jahren, kostet jetzt aber mindestens das Doppelte oder Dreifache. Das System mit Schlangestehen an einer langen Theke mit den ganzen Gerichten, die man sich dann von dem Servicepersonal geben lässt (indem man darauf zeigt, wenn man die Wörter nicht kennt oder aussprechen kann) ist noch das gleiche (alte, sowjetische), aber der ganze Einrichtungsstyle wurde aufgemotzt und sieht vollkommen westlich aus.