Kritik an einem "Tagesspiegel"-Beitrag zur Lage in Karabach
Berlin, den 25. August 2023
Sehr geehrte Damen und Herren,
dieser Leserbrief wird parallel zur Übersendung an den „Tagesspiegel“ auch im Internet veröffentlicht, unter anderem auf meiner Facebook-Präsenz „Michael Reinhard Heß“.
Einmal mehr schreibt ein führendes deutsches Medium, diesmal der „Tagesspiegel“, in vollkommen einseitig und unkritisch armenische Narrative übernehmender Art Weise über die aktuelle Lage in Aserbaidschans Region Karabach.
Offensichtliche Widersprüche im Text sind vom Lektorat offenbar nicht bemerkt oder nicht angesprochen worden. Gleich im ersten Satz fängt es an. Da, wie die Autorin Tessa Hofmann richtig feststellt, innerhalb Aserbaidschans in Karabach kein unabhängiger Staat anerkannt worden ist, kann es dort selbstverständlich auch keinen „Präsidenten“ geben. Zur Wahrung der Unabhängigkeit und Neutralität des Artikels hätte das Wort „Präsident“ daher also zwingend durch Ausdrücke wie „selbsternannter“ ergänzt werden müssen. Ihre proarmenische Voreingenommenheit verrät die Autorin im Übrigen bereits in demselben Satz auch durch die Nuancierung, dass „bisher“ noch keine Anerkennung eines separatistischen Staates im Staate erfolgt ist – als sei es wahrscheinlich oder wünschenswert, dass diese in Zukunft erfolgen würde. Selbst die Verwendung der schon lange keinerlei juristisch-administrative Geltung besitzenden altertümlichen Benennung „Bergkarabach“, immer noch im ersten Satz wie auch in der Überschrift des Artikels, zeigt unmissverständlich in dieselbe Richtung.
Tendenziöse und falsche Terminologie ist aber nicht die einzige Strategie, mit deren Hilfe Frau Hofmann die Leser des „Tagesspiegels“ für ihre proarmenische Sicht zu gewinnen versucht. Eine weitere ist es, historische Zusammenhänge so weit zu verkürzen, dass diese die Position der Autorin zu stützen scheinen. Hofmanns Hinweis, dass die betreffende Region im Jahr 1921 zu 94% von Armeniern bewohnt war (die mit geringen Schwankungen von einschlägiger Fachliteratur bestätigt wird), ist beispielsweise eine statistische Information, die unbedingt der historsischen Kontextualisierung bedarf, um nicht zu Missverständnissen Anlass zu bieten. Nur durch die Berücksichtigung der historischen Umstände werden die Gründe für diesen exzeptionell hohen Anteil von Armeniern an der Gesamtbevölkerung verständlich, der für das Jahr 1921 zu verzeichnen war. Diese lagen im Wesentlichen in den Ereignissen in der Zeit des Ersten Weltkriegs und den anschließenden Jahren des Russischen Bürgerkriegs begründet, als zahlreiche Armenier, die den Genozid im Osmanischen Reich überlebt hatten, nach Karabach und in anddere aserbaidschanische Gegenden kamen, wo sie traditionell nicht die Bevölkerungsmehrheit stellten. Nach Angaben der offiziellen russischen Volkszählung von 1897 hatte der Anteil der armenischen Bevölkerung in den Uezden (Bezirken) Elizavetpol´ (Gәncә), Cavanşir, Karjagin (Cәbrayıl), Şuşa und Zәngәzur damals beispielsweise 215 921 Personen betragen, bei einer Gesamteinwohnerzahl von 440 638 (siehe Perepis´ 2020). Dies entsprach ziemlich exakt 49% der Bevölkerung. Aus dieser Angabe, deren Gehalt sich leicht durch weitere historische Zahlen bestätigen lässt, geht eindeutig hervor, dass der von Hofman korrekt für das Jahr 1921 verzeichnete hohe armenische Bevölkerungsanteil eine Folge von Entwicklungen dargestellt haben muss, die zwischen 1897 und 1921 stattfanden. Faktisch kommen dafür nur die erwähnen Ereignisse aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach in Frage. Geht man noch weiter zurück als das Jahr 1897, so erkennt man, dass der armenische Bevölkerungsanteil in Karabach noch weiter absinkt, je weiter man in der Zeit zurückschreitet, bis er zu Beginn der russischen Eroberungspolitik im Südkaukausus Anfang des 19. Jahrhunderts etwa zwischen 20 und 30 Prozent (die Angaben schwanken je nach Ansatz, territorialer Referenz und Tendenz etwas) liegt. Erst danach steigt der armenische Bevölkerungsanteil signifikant, und zwar durch die von Russland bewusst im Gefolge des Vertrags von Türkmәnçay (1828) betriebenen systematischen und massiven Ansiedlung von Armeniern in seinen neu eroberten aserbaidschanischen Gebieten. Der extrem hohe Armenieranteil in Karabach im Jahr 1921 war also die Folge außergewöhnlicher, mit zahlreichen Gewaltakten (die Ansiedlung der Armenier in Karabach und angrenzenden Regionen Aserbaidschans während der Zeit von 1915 bis 1920 hatte Zehntausende Opfer unter der muslimischen Bevölkerung, die von Armeniern ermordet wurden, zur Folge, siehe hierzu etwa Baberowski 2003: 170) begleiteter Ereignisse. Die von Armeniern während ihres in vielen Fällen extrem gewaltsamen Eindringens nach Aserbaidschan ab 1918 an der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung begangenen massenhaften Verbrechen sind im Übrigen von Aserbaidschan bereits zu jener Zeit von der „Außergewöhnlichen Untersuchungskomission“ (Fövqәladә Tәhqiqat Komissiyası) dokumentiert und die Ergebnisse in 36 Bänden mit über 3500 Seiten, die zahlreichen Augenzeugenberichte enthalten, festgehalten werden. Zur theoretischen Erörterung dessen, was man unter „Genozid“ verstehen kann, und was nicht, eignet sich dieses Material natürlich hervorragend.
Eine weitere, nicht minder folgenschwere Verkürzung des historischen Kontexts nimmt Tessa Hofmann in Bezug auf die spät- und postsowjetische Zeit vor: „Erst beim Zerfall der Sowjetunion gelang den Bergkarabach-Armeniern die Abspaltung von Sowjetaserbaidschan, wodurch ein De-facto-Staat entstand.“ Die Sowjetunion endete offiziell im Dezember1991. Am 2. September 1991 hatten die armenischen Separatisten Karabachs ihre angebliche politische Unabhängigkeit proklamiert. Diese separatistische Abspaltung begann aber weder im September noch im Dezember 1991, sondern war ein vorläufiger Höhepunkt einer armenisch-nationalistischen Erweckungsbewegung, die von chauvinistischen Übertönen begleitet war und im Jahr 1987 in Armenien und in der NKAO parallel begonnen wurde. Sie war also mitnichten nur das Werk von Armeniern aus Karabach, sondern Teil eines umfassenen armenischen nationalistischen Projekts, dem unter anderem die „Nationale Bewegung der Armenier“ (Հայոց Համազգային Շարժում Hayoc´ Hamazgayin Šaržum) angehörte. Frau Hofmann reduziert den chronologischen Horizont so weit und blendet die (für die gesamten historischen Ereignisse) absolute entschiedende Beteiligung) der Armenischen SSR beziehungsweise Armeniens an der Aktualisierung des armenisch-separatistischen Projekts so weit aus, dass die ganze Zuspitzung des Karabachkonfliktes in der spätsowjetischen Zeit nicht als Folge armenischer Großreichsphantasien und revistionistischer Projekte erscheinen könnte, sondern gleichsam als Freiheitsbewegung der angeblich unterdrückten Armenier in Karabach. Den Armeniern wird ausschließlich eine Opferrolle zugestanden, die entscheidende ursächliche Beteiligung der Armenier sowohl der Armenischen SSR beziehungsweise Armeniens als auch Karabachs an der Herbeiführung der separatistischen Krise wird verschwiegen.
Frau Hofmann wiederholt an anderer Stelle Grundthesen proarmenischer historischer Mythen, auch wenn diese längst widerlegt sind. Indem sie schreibt, „die Sowjets“ hätten im Jahr 1921 „Bergkarabach“ Armenien versprochen und dann fortfährt: „Nur einen knappen Monat darauf schlugen sie es Aserbaidschan zu“, schlägt sie in dieselbe Kerbe wie mit der 94%-Zahl und versucht den Eindruck zu erwecken, der gebirgige Teil Karabachs (oder irgendein Teil Karabachs) habe vor 1921 zu irgendwem anderes gehört als Aserbaidschan. Wie in der Sekundärliteratur und selbst im Internet durch die Veröffentlichung des entscheidenden Beschlusses des Kaukasusbüros vom 5. Juli 1921 längst bekannt ist und jederzeit nachgelesen werden kann, verwendete das Kaukasusbüro bei seiner Beschlussfassung an diesem Tag für das Verhältnis zwischen Aserbaidschan und der neu zu schaffenden Autonomen Region Berg-Karabach (NKAO, die erst 1923 entstand, was bei der Bezugnahme Hofmans auf die angebliche Übergabe „Bergkarabachs“ im Jahr 1921 mit zu berücksichtigen ist) die russische Fomulierung Nagornyj Karabach ostavit´ v predelach Azerbajdžanskoj SSR „das Gebirgige Karabach innerhalb der Aserbaidschanischen SSR zu belassen“ (meine Hervorhebungen). Diese Formulierung besagt das exakte Gegenteil dessen, was Frau Hofman insinuiert, und zwar dergestalt, dass nach Auffassung des Kaukasusbüros „das Gebirgige Karabach“ zum Zeitpunkt der Fassung des betreffenden Beschlusses (5. Juli 1921) zu Aserbaidschan gehörte und keineswegs diesem erst übergeben werden musste. Die Autorin hat durch die falsche Übersetzung und Interpretation des Kontextes also die historische Wirklichkeit in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Im Übrigen betrug die Zeit, die zwischen einem ersten Beschluss des Kaukasusbüros vom 4. Juli, der zugunsten der Armenischen SSR ausgegangen war, und dem historischen Beschluss vom 5. Juli 1921 nicht einen Monat, sondern eben nur ein Tag.
Weiter im Text wiederholt Frau Hofmann den ebenfalls einen festen Bestandteil der armenischen separatistischen Propaganda darstellenden Vorwurf, dass Aserbaidschan die Region „70 Jahre lang wirtschaftlich und kulturell vernachlässigte“. Diese Behauptung ist mindestens strittig. Dass sie einer besonders kritischen Überprüfung bedarf, ergibt sich schon allein daraus, dass sie im Zuge der nationalistischen „Renaissance“ in Armenien (ab 1987) besonders gerne von proarmenischen Aktivisten wie dem sowjetischen Nobelpreisträger Andrej Sacharov im Mund geführt wurde (siehe etwa Sacharov . 1990 [1988]: 32). Kann man wirklich von 70 Jahren wirtschaftlicher und kultureller Vernachlässigung sprechen, wenn man weiß, dass die Zahl der Schulen in der NKAO in der Zeit von den frühen 1920er Jahren bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Kriegs von 104 auf 196 und die Zahl der Lehrer von 222 auf 1996 stieg (nach Mammadov 2014: 53), wodurch diese Indikatoren oberhalb des Durchschnitts in der Aserbaidschanischen SSR lagen? Zwischen 1970 und 1985 investierten die sowjetischen Autoritäten ungefähr 483 Millionen Rubel in Infrastruktur- und andere Projekte in der NKAO (Mammadov 2014: 55). Zahlreiche andere Projekte zur wirtschaftlichen und kulturellen Förderung der Region in der Sowjetzeit ließen sich herbeizitieren. Deutet dies wirklich alles so klar auf eine „Vernachlässigung“ der Region durch die Aserbaidschanische SSR hin, wie die Autorin glauben machen möchte?
Der in Ihrem Beitrag (unisono mit einer von armenischen und proarmenischen Autoren und Medien seit Beginn August durchgeführten Kampagne) erhobene Vorwurf des Genozids ist äußerst schwerwiegend, und er bedarf sorgfältiger Begründung. Ob der Hungertod eines Einzelnen, über dessen Umstände in dem Artikel nichts Genaueres gesagt wird, und die Meinung einiger Genozidforscher ausreichend ist, um ihm genug Substanz zu verleihen, scheint mir fraglich.
Mehr als zweifelhaft scheint mir Hofmanns Extrapolation der Behauptung, dass die Regierung der Republik Aserbaidschan „die physische Vernichtung“ (der Armenier von Karabach) in Kauf nehme. Als Beleg hierfür zitiert Hofmann eine Äußerung des aserbaidschanischen Staatspräsidenten, der gesagt habe, jene seien „Hunde“, die man „verjagen“ müsse. Mit Verlaub, erstens ist verjagen ist nicht dasselbe wie physische Vernichtung. Durch diese Verzerrung wirkt Hofmanns Interpretation von vorneherein überzogen. Zweitens benutzt Hofmann eine den Sinn der Originalaussage verfälschende Übersetzung. Die berühmten Worte Ilham Aliyevs, die mittlerweile im Internet viral gegangen sind (kurz und konzentiert abrufbar unter Aliyev 2023 und so weiter) lauten İti qovan kimi qovuruq onları. İti qovan kimi Azәrbaycan әsgәri onları qovur [...] „Wir werden sie verjagen, wie man einen Hund verjagt. Die aserbaidschanischen Soldaten werden sie verjagen, wie man einen Hund verjagt [...]. Auch wenn man von einem Beitrag in einer journalistischen Massenpublikation kein philologisches Gespür verlangen kann, ist es ein fundamentaler semantischer Unterschied, ob ich jemanden (ohne Vergleichspartikel) direkt als „Hunde“ bezeichne (wie von Hofmann behauptet wird) oder das Bild vom verjagten Hund (das als Sprachbild beziehungsweise Vergleich explizit durch die Postpostition kimi „wie“ gekennzeichnet ist) nur indirekt verwende. Im Übrigen wird wohl jedermann, der sich die Worte Ilham Aliyevs unvoreigenommen im Original und im Kontext ihrer Zeit anhört, sofort bemerken, dass es an das eigene Volk, die eigenen Soldaten, aber auch den Feind gerichtete drohende Worte waren, die Teil einer medialen Auseiandersetzung zwischen den Parteien darstellten, aber keine ernstgemeinte Ankündigung „physischer Vernichtung“.
In der Summe ist der Beitrag aus meiner Sicht einer untere vielen Belegen für die fehlende Bereitschaft der deutschen Mainstream-Presselandschaft, sich dem Thema „Karabach“ auf eine ausgewogene, sachbasierte und unvoreingenommene Weise zu nähern. Statt sich auch mit der aserbaidschanischen Sicht auf den Konflikt auseinanderzusetzen, was mindestens aus Fairnessgründen angebracht wäre, trägt man so dazu bei, dass die in der deutschen Öffentlichkeit vorhandene unkritische Haltung zementiert wird, was mittel- und langfristig die Verbreitung eines vertieften und auf objektivierbaren Faktoren basierenden Verständnisse der historischen und aktuellen Hintergründe massiv erschweren wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Michael Reinhard Heß
Quellen
Aliyev 2023. Ilham Aliyev: İti kovan kimi ... Https://www.facebook.com/watch/?v=334446234484849 [besucht am 25. August 2023].
Baberowski 2003. Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München: DVA.
Mammadov 2014. Mammadov, Ibrahim: The Secrets of the Soviet Empire. The Sumgayit Provocation against Azerbaijan. «The Grigoryan Case». Hajiyev, Baylar/ Smith, Graham R. (Übers.). Baku: Tahsil.
Perepis´ 2020. Perepis´ naselenija v Rossijskoj Imperii v 1897 godu. Https://www.ens.az/ru/perepis-naseleniya-v-rossiyskoy-imperii-v-1897-godu?fbclid=IwAR19HML0GH4KF_Rn52gTMjqvLDKYOHkh_Dfhu_VMw-dN8ggfdYN1NWUKHyE [besucht am 5. November 2020].
Sacharov 1990 [1988]. Sacharov, Andrej: Inogo ne dano. In: Zoljan, S. T./ Mirzojan, G. K. (Hgg.): Glazami nezavisimych nabljudatelej: Nagornyj Karabach i vokrug nego… Sbornik Materialov. Erevan 1990: Erevanskij Gosudarstvennyj Universitet. 33.