Sprachlicher Doppelstandard: „Libération“ über Karabach
Scheinbar minimale Nuancen in der Berichterstattung geben Meldungen oft eine bestimmte Richtung beziehungsweise verraten die Tendenz, der ein bestimmter Autor folgt. Oft gilt: Je unscheinbarer eine sprachliche Abtönung ist, desto mehr sagt sie über eine bestimmte Voreingenommenheit aus. An den sehr prominenten Stellen im Text bemühen sich selbst parteiische Autoren meistens bewussst um den Eindruck der Objektivität.
In einem Beitrag über die Lage in Karabach, den die französische Zeitung Libération am 28. September 2023 ins Internet stellte, wird auch ein Teil des historischen Hintergrunds rekapituliert. Dabei geht die Autorin Veronika Dorman auf die Zeit zwischen 1988 und 1994 ein. Damals, so heißt es, „verließen an die 700 000 Aserbaidschaner Armenien und vor allen Dingen Hochkarabach, während 230 000 Armenier aus Aserbaidschan flohen“ (près de 700 000 Azerbaïdjanais quittent l´Arménie et surtout le Haut-Karabakh, tandis que 230 000 Arméniens fuient l´Azerbaïdjan).
Zur Erinnerung: armenische Truppen eroberten in einem brutalen, mit zahleichen Kriegsverbrechen verbundenen Angriffskrieg zwischen 1991 und 1994 das Territorium der ehemaligen „Autonomen Oblast Bergkarabach“ (NKAO) und sieben umgebende Rayons Aserbaidschans.
Die Zahl von 230 000 Armeniern, die zwischen 1988 und 1994 aus Aserbaidschan „geflohen“ sein, ist zwar konservativ. Man kann aber dennoch behaupten, dass sie sich grosso modo mit Angaben aus anderer Literatur deckt. Aser Babajew beispielsweise spricht in Bezug auf in etwa denselben Zeitraum und den unbesetzten Teil Aserbaidschans als Herkunftsgegend von 300 000 Armeniern (Babajew 2014: 18f.).
Wie Dorman feststellt, schließt die von ihr genannte Zahl der 700 000 Aserbaidschaner explizit auch solche aus dem Territorium der ehemaligen NKAO ein. Ob diese Zahl auch die aus den umliegenden sieben Rayons vertriebenen Aserbaidschaner einschließt, sagt sie zwar nicht ausdrücklich, dass dies so gemeint ist, kann man aber angesichts der Höhe dieser Zahl annehmen, wenn man sie mit Angaben aus anderer Sekundärliteratur vergleicht.
Die Zahl der aus der NKAO ab 1989 vertriebenen Aserbaidschaner betrug bekanntlich (die Angaben schwanken) zwischen etwa 40 300 (nach der sowjetischen Volkszählng von 1989, zitiert in Vәliyev/ Şirinov 2016: 77) und 47 500 (siehe etwa Heydarov 2008: 43). Die Zahl der Aserbaidschaner, die im angegegeben Zeitraum aus der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik beziehungsweise aus dem unabhängigen Armenien nach Aserbaidschan flohen, wird auf in etwa 200 000 beziffert (Babajew 2014: 18f.).
Zieht man von der Zahl 700 000, die Dorman nennt, die 40-47500 aus dem Gebiet der NKAO vertriebenen Aserbaidschaner und die 200 000 aus Armenien ab, so bleiben noch 452 500 bis 460 000 vertriebene Aserbaidschaner übrig. Dies müsste dann logischerweise der Zahl entsprechen, die Dorman für die aus den sieben außerhalb des Gebiets der ehemaligen NKAO besetzten Territorien vertriebenen Aserbaidschaner annimmt.
Damit bewegt sich die Libération-Autorin zwar deutlich unterhalb des Durchschnitts der Schätzungen. Zum Vergleich: Ihre Kollegin Nelly Didelot bezifferte noch im August die Zahl der aserbaidschanischen Binnenvertriebenen, die es im Jahr 2023 als Folge der armenischen Aggression gab, auf 600 000. Dieselbe Zahl an aserbaidschanischen Binnenvertriebenen für den Zeitraum von 1992 bis 1994 nennt auch der aserbaidschankritische Autor Laurence Broers (in Boy/ Broers 2023). Zieht man davon die maximal vielleicht 50 000 aus der ehemaligen NKAO ab, bleibt immer noch mindestens eine halbe Million, also mehr als von Dorman angenommen. Aserbaidschanische Schätzungen der durch die armenische Agrression zu Binnenvertriebenen Gewordenen gehen noch höher.
Doch der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle nicht die Höhe der Zahlen. Wichtiger ist, dass sich in der Zahl von 700 000 Aserbaidschanern, die in Dormans Artikel auftauchen, zweifellos etliche Tausend sind, die Opfer der armenischen Angriffe und der aus ihr resultierenden Besatzung wurden.
Denn zahllose der 700 000 Aserbaidschaner wurden also aus ihrer angestammten Heimat als Folge einer gewaltsamen Invasion vertrieben. Wenn Dorman über diese Menschen nun sagt, sie hätten ihre Heimat „verlassen“, im selben Atemzug aber feststellt, dass die 230 000 Armenier aus Aserbaidschan „flohen“, obwohl dieses Fliehen evidentermaßen nicht unter dem Eindruck einer vergleichbarer Invasion, vergleichbarer Gewalt und vergleichbaren Kriegshandlungen geschah, wertet sie das Leid der Aserbaidschner gegenüber dem der Armenier massiv ab.
Aus einem Kriegsgebiet unter dem Eindruck massiver militärischer Gewalt vertriebene Aserbaidschaner „verlassen“ ihr Gebiet, ohne solche Umstände müssen die Armenier „fliehen“.
Dass Frankreich als Land und die französische Öffentlichkeit einschließlich der Presselandschaft schon immer stark proarmenisch eingestellt waren und ein Problem damit haben, auch die andere Seite im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt wahrzunehmen, ist bekannt.
Diese Tendenz schlägt in dem Artikel Veronika Dormans auch an anderen Stellen durch. So spricht sie, wie viele andere Journalisten, fälschlicherweise von „der Enklave Hochkarabach“ (l´enclave du Haut-Karabakh), und formuliert, ebenfalls völkerrechtlich eindeutig unrichtig, dass „das Gebiet nach dem 44-Tage-Krieg aserbaidschanisch geworden“ sei (le territoire est devenu azerbaïdjanais après la «guerre des quarante-quatre jours»).
Der Artikel in der (als „links“ geltenden) Libération reiht sich in die überwiegend aserbaidschankritischen Äußerungen aus links verorteten Pressestimmen ein, wie es sie in Deutschland beispielsweise in der taz gibt (siehe den ebenfalls hier heute eingestellten Beitrag „War die Vernichtung aserbaidschanischer Kultur in Karabach nicht gezielt?“).
Es herrschen dort offenbar zwei Standards für die Opfer. Das Leiden der Aserbaidschaner ist meist ein Leiden zweiter Klasse.
Quellen
Babajew 2014. Babajew, Aser: Weder Krieg noch Frieden im Südkaukasus. Hintergründe, Akteure, Entwicklungen zum Bergkarabach-Konflikt. Baden-Baden: Nomos.
Ann-Dorit Boy, datiert auf den 21. Januar 2023]. Https://www.spiegel.de/ausland/aserbaidschan-armenien-konflikt-es-gibt-allen-grund-in-diesem-jahr-mehr-gewalt-zu-erwarten-a-c3a15745-2546-4b09-9b16-5168b5dfd74f [downgeloaded am 2. Oktober 2023].
Didelot 2023. Didelot, Nelly: Haut-Karabakh: bataille d´experts et de convois humanitaires entre l´Arménie et l´Azerbaïdjan [Artikel aus dem Online-Angebot von Libération, datiert auf den 30. August 2023]. Https://www.liberation.fr/international/europe/haut-karabakh-bataille-dexperts-et-de-convois-humanitaires-entre-larmenie-et-lazerbaidjan-20230830_ZMXIOZZV3VFAXPEYFDDUHYKZQI/ [downgeloaded am 31. August 2023].
Dorman 2023. Dorman, Veronika: Haut-Karabakh : la fin abrupte d´une longue histoire [Artikel aus dem Online-Angebot der französischen Zeitung Libération, datiert auf den 28. September 2023, 20 Uhr 32 MESZ]. Https://www.liberation.fr/international/europe/haut-karabakh-la-fin-abrupte-dune-longue-histoire-20230928_FLMC4CLSC5HNTOLE2DEPIEA6ZA/ [downgeloaded am 01. Oktobe 2023].
Heydarov 2008. Heydarov, Tale (Hg.): Azerbaijan. 100 Questions answered. Baku: CBS.
Vәliyev/ Şirinov 2016. Vәliyev, Şahin/ Şirinov, Raqif: Qarabağ tarixi. Ümumtәhsil mәktәblәrinin 8-ci sinfi üçün fakültativ kursun tәdris vәsaiti [Geschichte Karabachs. Unterrichtshilfsmittel für den fakultativen Kurs für die 8. Klasse allgemeinbildender Schulen]. Baku: Azәri.