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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Bewusste Voreingenommenheit im "SPIEGEL"-Podcast zur Lage in Karabach

15. Januar 2023

Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat naturgemäß auch direkte Auswirkungen auf die Situation im Südkaukasus. Aserbaidschan hat im 44-Tage-Krieg des Jahres 2020 wichtige Teile seines seit etwa dreißig Jahren unter fremder Besatzung stehenden Territoriums befreien können, aber eben nicht das ganze Staatsgebiet. In der am 10. November 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossenen Waffenstillstandsvereinbarung wurde neben Gebietsrestitutionen auch festgelegt, dass der unter Besatzung verbleibende Teil Karabachs über den sogenannten Laçın-Korridor über Land aus Armenien versorgt werden solle. Festgelegt wurde auch, dass die Versorgung in das Separatistengebiet durch ungefähr 2 000 russische sogenannte „Friedenstifter“ (mirotvorcy, ein Schelm sei, wer sich Böses bei dieser Bezeichnung denkt) überwacht werden solle. Diese russischen Friedensschaffer erhielten laut dem Abkommen ein fünfjähriges Mandat mit der Option auf Verlängerung.

Trotz Bemühungen um eine endgültige formale Lösung des Konflikts, etwa in Form eines Friedensvertrags (für den die aserbaidschanische Seite fünf essentielle Punkte vorgeschlagen hat) und trotz spektakulärer diplomatischer Fortschritte wie etwa des persönlichen Gesprächs zwischen dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Aliyev in Prag am 6. Oktober 2022 ist es auch nach dem Ende des 44-Tage-Krieges immer wieder zum Ausbruch von Spannungen gekommen. Deren trauriger Höhepunkt war bisher ein intensiver militärischer Schlagabtausch zwischen Armenien und Aserbaidschan zwischen dem 12. und dem 14. September letzten Jahres, dem geschätzt 300 Menschen zum Opfer fielen.

Seit dem 12. 2022 Dezember treten in und am Laçın-Korridor nun als Öko-Aktivisten auftretende Aserbaidschaner in Erscheinung, die unter anderem gegen die fortdauernde Besetzung eines Teils ihres Landes protestieren.

In einer langen Folge seines Auslandspodcasts „Acht Milliarden“ widmet sich nun der „Spiegel“ der Situation vor Ort. Autor Olaf Heuser hat sich dafür entschieden, die Lage aus armenischer Sicht zu beleuchten, und so basiert die komplette Einschätzung, die in den 33 Minuten Audiofile präsentiert wird, neben seinen eigenen Aussagen auf der Meinung der in Eriwan befindlichen Armenierin Gayane Beglarjan und der für T-online arbeitenden armenischstämmigen Journalistin Anna Aridzanjan. Die einzigen Äußerungen der aserbaidschanischen Seite, die vorkommen, sind einige mit stark negativen Bewertungen eingerahmte Aussagen des aserbaidschanischen Staatspräsidenten. Argumentativ ist aber die aserbaidschanische Seite weder quantitativ noch qualitativ in irgendeiner nennenswerten Weise vertreten.

Im Prinzip ist es natürlich möglich, auch durch die kritische Bewertung von Stellungnahmen nur einer einzigen Partei zu einer annähernd objektiven Beurteilung einer Situation zu kommen. Voraussetzungen hierfür sind aber der Wille zur Neutralität und Objektivität, argumentative Stringenz und natürlich die Überprüfung der getroffenen Aussagen anhand von unabhängigen Informationen. All dies wird man in dem Podcast meist vergeblich suchen.

Es fängt damit an, dass der „Spiegel“ in Person von Olaf Heuser sich immer noch nicht von der falschen Bezeichnung eines Teils von Karabach als „Exklave“ (Minute 1: 06) verabschiedet hat. Ich erlaube mir an dieser Stelle den persönlichen Hinweis, dass ich seit dem Ausbruch des 44-Tage-Krieges in mehrfachen Leserbriefen die „Spiegel“-Redaktion auf die Unsinnigkeit dieser Benennung hingewiesen habe, zuletzt vor wenigen Wochen. Trotz der von der Redaktion des Magazins gemachten Zusage, man wolle fortan sensibler mit wichtiger Terminologie umgehen, zeigt der Podcast vom 13. Januar 2023 das Gegenteil. Dies ist sicher ein Faktor, der zur sich (zu Recht) ausbreitenden Journalismusverdrossenheit im deutschsprachigen Raum, auch und gerade unter Medien mit dem Anspruch auf „Qualität“, beitragen muss. Wie sagte schon Albert Camus: "Mal nommer un objet, c’est ajouter au malheur de ce monde."

Der gedankliche Kern des Podcasts ist ein Mitleids-Narrativ zugunsten der Armenier. Durch dieses werden „armenische Menschen“ ausschließlich als Opfer und „aserbaidschanische Menschen“ (das sind offenbar die neue politisch korrekte Speakregeln für „Armenier“ und „Aserbaidschaner“) nur als Autokraten und Täter dargestellt werden. Allein hier wird schon deutlich, wie überaus problematisch die Entscheidung Heusers ist, ausschließlich armenische Betroffene wie Beglarjan zu Wort kommen zu lassen. Denn in dem ganzen Podcast werden „Bergkarabach“ systematisch mit den dort lebenden Armeniern gleichgesetzt, als habe es dort keine andere Bevölkerung gegeben beziehungsweise als falle der Umstand, dass vor der armenischen Eroberung und Besetzung des Gebiets Anfang der 1990er Jahre noch etwa 40 000 Aserbaidschaner in der damaligen „Autonomen Region Berg-Karabach“ (NKAO) gelebt hätten, überhaupt nicht ins Gewicht. Die aserbaidschanischen Opfer der armenischen Aggressions- und Besatzungspolitik in Karabach sind für Heuser also quantités négligeables und faktisch noch weniger als Opfer zweiter Klasse, nämlich Opfer nullter Klasse, weil sie nicht einmal in der Darstellung vorkommen. Man könnte sagen, dass der Podcast die Vision eines zu einhundert Prozent „aserbaidschanerfreien“ Karabach entwirft, ganz im Sinne der armenischen ethnischen Säuberungspolitik.

Die Folgen dieser bewussten und systematischen Ausklammerung der aserbaidschanischen Perspektive zeigen sich auch deutlich in der von Heuser vorgetragenen Behauptung, dass das Separatistengebiet in Karabach „von den Menschen dort ,Arzachʽ genannt wird (0:41). Auf der Oberfläche betrachtet, hat diese These immerhin auch eine gewisse Logik. Denn die Aserbaidschaner sind ja tatsächlich keine „Menschen dort“, nachdem sie nämlich durch die Armenier aus ihrer Heimat vertrieben beziehungsweise ermordet wurden.

In der Summe kann man Heuser anhand des Gesagten den Vorwurf machen, dass er mit seinem einseitigen Opferbegriff die Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, die von Armeniern seit dem Anfang der 1990er Jahre in und um Karabach begangen worden sind, indirekt legitimiert. Das ist kein Detailproblem. Vielmehr macht sich Heuser nachträglich zum Komplizen der von Armeniern betriebenen Politik der ethnischen Säuberung. Heuser scheint es nicht zu stören, dass auch bereits die Auswahl seiner Gewährsleute genau diese menschenverachtende Politik legitimiert. Wenn Gayane Beglarjan argumentiert, dass das betreffende Territorium nicht zu Aserbaidschan gehöre, und zwar weil sie selbst Armenierin sei und dort lebe, hätte unbedingt der Hinweis folgen müssen, dass ohne die Ende der 1980er-Jahre begonnene armenische nationalistische Aggressions- und Vertreibungspolitik auch noch Tausende von Aserbaidschanern und Aserbaidschanerinnen aus der ehemaligen NKAO heute vor die Mikrofone treten und sagen könnten, dass das Gebiet aserbaidschanisch sei, weil sie Aserbaidschaner seien und dort lebten. Heuser ist hier einem klassischen Fall von Doppelstandarddenken auf dem Leim gegangen, das nur die Opfer der einen Seite im Blick hat.

Verräterisch sowohl im Hinblick auf die Denkweise von Heusers Gewährsfrau Beglarjan als auch Heusers Phlegma beim genauen Hinsehen und Interpretieren von Quellen ist im Übrigen folgendes Statement von Beglarjan (Minute 8:44ff.): „Niemand hier möchte von aserbaidschanischen Kräften kontrolliert leben. DIESES THEMA STEHT NICHT EINMAL ZUR DISKUSSION. “ [Hervorhebung von M. R. H.] Auch hier hätte einem an demokratischen Repräsentationsprozessen geschulten Beobachter die Exklusivität des „niemand hier“ auffallen können, denn dieses allumfassende Pronomen schließt faktisch Nichtarmenier aus und ist als Ergebnis der von den Armeniern durchgeführten ethnischen Säuberung in Karabach überhaupt erst entstanden. Aber vor allen Dingen muss man doch bei einem Satz wie „Dieses Thema steht nicht einmal zur Diskussion.“ hellhörig werden, denn er heißt ja nichts anderes als, dass abweichende Meinungen oder Stimmungen nicht toleriert werden. Für einen in historischen Dimensionen denkenden Beobachter offenbaren derartige Äußerungen übrigens die Kontinuität zwischen dem intoleranten und gewaltvernarrten Autoritätsglauben und -gebaren der frühen „Berg-Karabach“-Separatisten (ab Mitte 1918) und ihren heutigen Avataren.

Selbstredend führt die bereits erwähnte Übernahme des Begriffs „Arzach“ durch Heuser zu einer Kette weiterer argumentativer Inkohärenzen und Sackgassen. Selbst nach armenischen Angaben war das letzte Jahr, in dem eine Provinz dieses Namens (armenisch Արցախ Arc´ax) zum letzten Mal zumindest nominell unter der Herrschaft eines armenischen Fürsten stand, das Jahr 1045 (Kalpakian 1993: 112). Bis zu diesem Jahr war das Gebiet noch Teil des in der armenischen Historiographie als armenisch geführten Königreichs der Bagratiden, das im Jahr 1045 endete, indem es von Ostrom annektiert wurde. Seither stand das, was einstmals Արցախ Arc´ax gewesen war, bis zu seiner Annexion durch Armenien Anfang der 1990er Jahre nie wieder unter armenischer Herrschaft, und der Begriff „Arzach“ wurde bis dahin auch niemals wieder als administrativ-juristischer Terminus gebraucht, auch nicht unter zaristischer und sowjetischer Herrschaft. Wenn Heuser also sagt: „Nach der Oktoberrevolution wurde die Transkaukasische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet, bestehend aus Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Mit der Gründung einzelner Sowjetrepubliken aus diesem Konglomerat wurde das Gebiet von Berg-Karabach der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeordnet. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand die Bevölkerung Arzachs zu mehr als 90% aus Armeniern.“ (18:11ff.), propagiert er einen Mythos über eine historische Entität „Arzach“, die es damals schon seit über neun Jahrhunderten nicht mehr gab, und verwechselt armenische Geschichtsmythen mit historischer Realität.

Während Heuser im Gefolge seiner armenischen Stichwortgeber also kein Problem damit hat, die politische Realität mit Hilfe von Vokabular zu beschreiben, das seit ungefähr einem Jahrtausend politisch-administrativ außer Gebrauch gekommen war, und so auch ein „Arzach“ entdecken kann, wo es keines gegeben hat, ignorieren er und seine armenische Gewährsfrau Aridzanjan demgegenüber sehr gut dokumentierte historische Tatsachen aus weit weniger weit zurückliegenden historischen Epochen, wenn diese das Gegenteil ihrer pro-armenischen Sichtweise aufzeigen. So gibt Heuser seiner armenischstämmigen Journalistenkollegin Aridzanjan Gelegenheit, sich ausführlich und unwidersprochen über die von der aserbaidschanischen Seite lancierte Idee zu mokieren, den heutigen Staat Armenien als „West-Aserbaidschan“ zu bezeichnen (ab Minute 16). „Jeder ernstzunehmende Historiker sagt, es ist völliger Unfug“, behauptet Aridzanjan dazu, was Heuser, wie fast immer bei Äußerungen seiner armenischen Gewährsleute, so stehen lässt.

Aber stimmt das wirklich? Da die „ernstzunehmenden Historiker“, die die Bezeichnung „West-Aserbaidschan“ angeblich als „völligen Unfug“ nachweisen, nicht benannt werden, bleibt nur, sich selbst logische Gedanken über die Plausibilität dieser These zu machen. Bekanntermaßen war Eriwan (aserbaidschanisch: İrәvan) in der Zeit der Safawiden (1501-1736) Hauptstadt eines bәylәrbәylik (Großprovinz). Die Safawiden waren eine muslimische Dynastie turksprachiger Herkunft, deren Sprache als Vorläufer des heutigen Aserbaidschanischen betrachtet werden kann, und das Gebiet der Provinz wurde mehrheitlich von aserbaidschanisch- und iranischsprachigen Muslimen bevölkert. Armenier waren dort nur eine relativ kleine Minderheit. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert wurde das Gebiet um İrәvan mit seiner aserbaidschanisch-muslimischen Führungs- und Oberschicht zu einem unabhängigen Khanat und bestand als solches fort, bis es durch Russland 1828 einverleibt und aufgelöst wurde. Erst durch die Schaffung der armenischen sogenannten Ararat-Republik am 28. Mai 1918 kam die Stadt İrәvan/ Eriwan – im Übrigen unter Umständen, deren historische und rechtliche Legitimation von aserbaidschanischer Seite heute teilweise angezweifelt wird – zum ersten Mal in seiner Geschichte überhaupt unter armenische Herrschaft.

Wenn man also zur Beurteilung der Frage, ob Eriwan und Umgebung beziehungsweise das Gebiet des ehemaligen Khanats İrәvan berechtigterweise als „West-Aserbaidschan“ bezeichnet werden könnte, als Kriterium auf die historische Kontinuität der Herrschaft zurückblickt, erscheint die Bezeichnung dann wirklich so absurd, wie das Duo Heuser-Aridzanjan es insinuieren? Ist es, wie Aridzanjan mit starkem Understatement aussagt (16:54), wirklich so undenkbar anzunehmen, dass die (heutige) armenische Hauptstadt Eriwan ursprünglich aserbaidschanisch gewesen sei? Da der letzte mit einem gewissen Anspruch als „armenisch“ zu bezeichnende unabhängige Staat vor der Gründung der Ararat-Republik das 1375 untergegangene Königtum von Kilikien mit seiner Hauptstadt Սիս Sis in der heutigen Südtürkei war, kann man definitiv ausschließen, dass es auch vor der Errichtung der Safawidenherrschaft im Jahr 1501 im späteren İrәvan/ Eriwan so etwas wie eine armenische Herrschaft gegeben habe. Auch für noch weiter zurückliegende Zeiten ist dies eher unwahrscheinlich und dürfte eher ephemere historische Erscheinungen betreffen, wenn man bedenkt, dass der ursprüngliche Siedlungsraum der Armenier im Wesentlichen westlich von İrәvan/ Eriwan, unter anderem auf dem Gebiet Anatoliens, lag. Während man also zur Legitimierung der historischen Zugehörigkeit İrәvan/ Eriwans zu „West-Aserbaidschan“ immerhin auf einige Jahrhunderte politischer und administrativer Kontinuität zurückgreifen kann (wenn man nicht mit wesentlich komplizierteren Kategorien wie Kultur und Demographie argumentieren möchte), gab es in demselben Gebiet mindestens zwischen 1375 und 1918 und sehr wahrscheinlich noch ein paar Jahrhunderte früher nichts vergleichbares Armenisches. Die Frage, die man sich angesichts all dieser historischen Umstände stellen sollte, lautet aus meiner Sicht eher, warum man İrәvan/ Eriwan dann nicht zumindest in Bezug auf diese Epochen als (westliche) Teile Aserbaidschans bezeichnen sollte.

All diese komplexen historischen Hintergründe spielen für den „Spiegel“ indes offensichtlich keinerlei Rolle, denn für Olaf Heuser ist ja schon alles klar in Bezug auf die historische Zugehörigkeit von Eriwan zu Armenien, West-Aserbaidschan oder was auch immer. Die Erwägung, Eriwan zumindest theoretisch als Teil West-Aserbaidschans zu konzipieren, glaubt er nämlich mit dem allwissenden und herablassend auf Ilham Aliyev gemünzten Einwurf „Macht man so, wenn man so was haben will, als Potentat“ (Minute 16: 37) vom Tisch wischen zu können.

Ohne Hintergrundwissen erscheint die Welt eben sehr einfach, schwarz und weiß, gut und böse. Die Rolle, die Heuser in der hier angeschnittenen Dialogpassage (bis etwa 17:00) mit Aridzanjan einnimmt, ist nicht mehr die eines Moderators oder gar neutralen Journalisten, sondern eher die des passiven Stichwortgebers und Claqueurs. Beide Sprecher befeuern sich gegenseitig, während Aridzanjan einen Vergleich zwischen Aliyev und Putin beziehungsweise Russland und Aserbaidschan anstellt, mit anderen Worten, der aserbaidschanischen Seite die Rolle des alleinigen Aggressors zuweist. Aridzanjan spricht in diesem Zusammenhang von „Geschichtsverfälschung“, „Propaganda“ und „Falschinformationen“.

Was in dem Podcast unter „Geschichtsverfälschung“, „Propaganda“ und „Falschinformationen“ verstanden wird, sind aber fast ausnahmslos nur aserbaidschanische, niemals armenische Positionen. Wenn Heuser an einer anderen Stelle (18:48) sagt „als am Ende der Sowjetunion der Berg-Karabach-Konflikt ausbrach“, offenbart er erneut seine fundamentale Inkompetenz, in Bezug auf Geschichtsdarstellung beziehungsweise Propaganda die Spreu vom Weizen trennen zu können. Denn durch diese Äußerung kehrt er den entscheidenden, aus einer nationalistischen Aufbruchstimmung heraus bewusst herbeigeführten und kalkulierten Aufbau der Spannungen um Karabach unter den Teppich, der schon vor dem Ende der Sowjetunion, spätestens ab 1987, von armenischer Seite betrieben wurde. Das ist „Geschichtsverfälschung“, „Propaganda“, das sind „Falschinformationen“.

Wie sorglos Heuser mit historischen Informationen umgeht, hört man auch bei Minute 17: 38. Dort heißt es: „Die Probleme zwischen den beiden Staaten begannen wohl mit dem versuchten Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reichs ermordete zwischen 1915 und 1916 Hunderttausende Armenier.“ An dieser Stelle sei daran erinnert, dass es 1915 und 1916 weder einen armenischen noch einen aserbaidschanischen Staat gab. Auch dürfte die Reduktion beziehungsweise das Ansetzen des Beginns des armenisch-aserbaidschanischen Zerwürfnisses auf den Armeniergenozid angesichts der Ereignisse von 1905 und der Komplexität der historischen Ereignisse, in die Armenier, Aserbaidschaner, Osmanen und andere zwischen ab 1914 involviert waren, nicht ganz unumstritten sein. Dass Heuser einen oberflächlichen Hinweise auf den Genozid und damit einen oft als Totschlagargument dienenden zentralen Baustein heutiger armenischer Argumentationsstrategien in Bezug auf Karabach unreflektiert übernimmt, ist letzten Endes nur ein weiterer Beleg für seine klar proarmenische Position.

Egal, kann man sagen, was sind schon historische Tatsachen für den „Spiegel“? Das Blatt folgt ja auch sonst bis ins Detail bekannten armenischen Geschichtsthesen und Strategien zu deren Plausibilitätssteigerung. Hierzu gehören bewusste Weglassungen und Falschbehauptungen. Dies sieht man, wenn man das bereits angeführte Zitat „Nach der Oktoberrevolution wurde die Transkaukasische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet, bestehend aus Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Mit der Gründung einzelner Sowjetrepubliken aus diesem Konglomerat wurde das Gebiet von Berg-Karabach der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeordnet.“ noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet. Wenn man von der Oktoberrevolution im Jahr 1917 direkt zum 13. Dezember 1922 (dem Gründungsdatum der genannten „Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, russisch Zakavkazskaja Socialističeskaja Federativnaja Sovetskaja Respublika) beziehungsweise in den März 1922, wo die Föderation bereits unter einem leicht anderen Namen ins Leben trat, springt, um die Geschichte „Berg-Karabachs“ zu beschreiben, kann das naturgemäß nicht gut gehen, weil der Begriff „Berg-Karabach“ erst nach der Oktoberrevolution entstand und entscheidende Etappen des Konfliktes um es genau in diesen fünf Jahren zurückgelegt wurden. An dem Satz „Mit der Gründung einzelner Sowjetrepubliken aus diesem Konglomerat wurde das Gebiet von Berg-Karabach der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeordnet“ stimmt dementsprechend auch gar nichts, weder der beschriebene Vorgang noch das Jahr. Bekanntermaßen lautet der entscheidende Passus im Dokument „Aus dem Protokoll der Sitzung des Plenums des Kaukasusbüros des Zentralkomitees der Russländischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki)“ (russisch Iz protokola zasedanija plenuma Kavbjuro CK RKP (b)) vom 5. Juli 1921, dass „Berg-Karabach in den Grenzen der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik belassen“ werden solle (russisch Nagornyj Karabach ostavit´ v predelach Azerbajdžanskoj SSR), von „Zuordnung“ oder „Zuweisung“ ist dort nicht die Rede.

Es sind aber nicht nur mangelnde Kenntnisse und fehlende Bereitschaft, sich unvoreingenommen in die Materie einzuarbeiten, die zu gravierenden Fehleinschätzungen führen. Nicht einmal in sich selbst sind die aus dem Podcast in den Äther rauschenden Behauptungen immer stimmig. So wird etwa die Behauptung unkommentiert zugelassen, „nach dem letzten Konflikt überließ Armenien die Gebiete rund um Arzach den siegreichen Aserbaidschanern“ (Minute 1: 01). Hier wäre zumindest eine Rückfrage des Journalisten angebracht gewesen. Denn wenn man annimmt, dass „Armenien“ die Gebiete um die Separatistenhochburg den Aserbaidschanern „überließ“, müsste Armenien dort die Macht, Oberhoheit oder zumindest einen bedeutenden Einfluss haben, was eben implizieren würde, dass es sich nicht eben um einen unabhängigen Staat handelte, sondern einen armenischen Satelliten oder Vergleichbares. Analog wird (Minute 19: 11) festgestellt, dass der Krieg von 2020 von „Armenien“ geführt worden sei. Wie passt das alles nun aber zu der an anderer Stelle (8:55) zu hörenden und ebenfalls unwidersprochen im Raum stehen gelassenen Aussage, dass die Leute in der Region sich als unabhängigen Staat bezeichnen?

Neben der Einseitigkeit, der Opferperspektivenverzerrung, der Verdrehung historischer Tatsachen und der Widersprüchlichkeit ist ein weiteres Problem der Darstellung in dem Podcast die offene Tendenziosität. Hierzu gehört die in ihm unausgewogen angewandte rhetorische Technik der Personalisierung und auf die Person zugeschnittenen Emotionalisierung, und zwar in Verbindung mit persönlichen Attacken gegen den aserbaidschanischen Staatspräsidenten. „Der aserbaidschanische Autokrat will allem Anschein nach die Gelegenheit nutzen, den mehr als 30 Jahre alten Konflikt um das Gebiet ein für alle Mal zu seinen Gunsten zu entscheiden.“ (3:51 ff.) Durch diese Formulierung wird der Eindruck erweckt, es gehe in dem Konflikt um eine Art persönlicher Vendetta Aliyevs, und nur Aliyevs. Diese Dämonisierung des aserbaidschanischen Staatspräsidenten dient zugleich der Delegitimierung des aserbaidschanischen Anspruchs auf die Rückgewinnung der Kontrolle über sein eigenes Staatsgebiet. Dieser erscheint dadurch nicht als ein berechtigtes und logisches, sich aus den Vorgaben des Völkerrechts ergebendes Vorhaben, sondern als eine Art persönlicher Feldzug des aserbaidschanischen Staatsführers. Die eigentliche Grundlage der aserbaidschanischen Ansprüche – das Völkerrecht, wie es etwa durch die bekannten UN-Sicherheitsrats-Resolutionen aus dem Jahr 1993 zum Ausdruck gekommen ist, das Recht auf Selbstverteidigung und so weiter – werden in dem Podcast nicht mit einer Silbe erwähnt. Stattdessen werden, mit dem Unterton der Empörung umrahmt, einige Äußerungen Aliyevs eingespielt (7:48ff.), die diesen diskreditieren sollen. Allerdings hört man ihnen den Staatspräsidenten nur klarstellen, dass es Aserbaidschan nicht um die Vertreibung von Armeniern aus Karabach geht, sondern um die Bekämpfung von Separatisten und Besatzern. Sind das etwa nicht vollkommen legitime Ansinnen? Applaudiert die zivilisierte Weltgemeinschaft gerade etwa nicht für Analoges der ukrainischen Führung unter Zelenskij? Auch wenn man sich die Position Aserbaidschans nicht zu eigen machen möchte, muss auffallen, dass eine Personalisierung, Emotionalisierung und durch sie angestrebte Dämonisierung in Bezug auf Armenien oder armenische Führer in dem Podcast nicht stattfindet. Der Name Paschinjans wird nicht einmal genannt.

Besonders unglaubwürdig und gerade aus deutscher Sicht etwas peinlich wird die Strategie der Personalisierung an der Stelle (9:17-12:00), wo Aridzinjan sehr ausführlich schildern darf, wie sich Ilham Aliyev zwei Tage vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mit Wladimir Putin getroffen hat. Der Spiegel-Podcast macht sich darüber lustig und kritisiert, dass die beiden Staatsoberhäupter bei dieser Begegnung gescherzt hätten und die Atmosphäre freundlich gewesen sei. Ja und? Das ist nun einmal in der Diplomatie so, auch unter Staatsoberhäuptern. Es gibt eine gewisse Etikette, wenn es darum geht, eine Annäherung auf politischer und diplomatischer Ebene zu erreichen. Dass diese Annäherung Ziel des Gesprächs war, liegt ja auf der Hand, sonst hätte es wohl auch nicht stattgefunden. Als Deutscher möchte ich in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, dass Olaf Scholz ja auch am 22. Februar 2022 in Moskau bei Putin war, und wahrscheinlich hat Scholz zumindest in seiner Rhetorik auch keinen großen Versuch unternommen, Putin zu ärgern oder unfreundlich zu sein. Was im Podcast also minutenlang als scheinbare Argumentationskulisse gegen den aserbaidschanischen Präsidenten aufgebaut wird, ist im Endeffekt nicht viel mehr als windige Polemik.

Diese Verteufelung Aserbaidschans ist zumindest aus Sicht des „Spiegel“ umso unverständlicher, als der Podcast selber die Schuld an der im Titel erwähnten angeblichen „Blockade von Bergkarabach“ überhaupt nicht den Aserbaidschanern, sondern den russischen Vertretern vor Ort zuschreibt (5: 16ff.). Der Podcast stellt fest, dass die Russen die Barrikaden aufgestellt haben, die zu der beschriebenen schwierigen humanitären Situation in dem Gebiet führe. Man fragt sich unwillkürlich, worin eigentlich das Problem mit Aserbaidschan besteht, wenn doch der Hauptadressat der Kritik Russland ist. Meiner Ansicht nach hat Aridzanjan in Bezug auf die Rolle Russlands übrigens eine sehr realistische und wohl nicht von der Hand zu weisende Einschätzung parat (6:18ff.). Sie stellt nämlich heraus, dass Russland ein Interesse an dem Konflikt beziehungsweise seiner Aufrechterhaltung habe, weil es ohne diesen Konflikt seinen Einfluss in der südkaukasischen Region nicht mehr geltend machen könne. Dem kann man eigentlich nicht widersprechen.

Als Fazit aus dem Hören des Podcasts frage ich mich, warum deutsche Mainstream-Journalisten sich ohne fachlichen Tiefgang und Wunsch zur Ausgewogenheit und ohne erkennbares Bemühen darum Themen widmen, von denen sie selber ja merken, dass sie das gewählte Format und die vorhandenen Möglichkeiten übersteigen. Vielleicht wäre in Zukunft auch hier etwas weniger mehr.

Https://www.spiegel.de/ausland/aserbaidschan-schneidet-bergkarabach-von-der-aussenwelt-ab-eskalation-im-suedkaukasus-a-5efc36a8-56af-458f-85ce-86f327ed39a2 [zuletzt besucht am 2. März 2023]

Quellen

Kalpakian 1993. Kalpakian, Bischof Vosskan: Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt und das »Karabach«-Problem. In: Hakobian, Hravard et al.: Armenisches Berg-Karabach/ Arzach im Überlebenskampf. Christliche Kunst – Kultur – Geschichte. Richter, Manfred (Hg.). Berlin: Edition Hentrich. 111-113.