Befreiung Karabachs "Rückabwicklung der Geschichte"?
In einer Phoenix-Sendung vom 29. September 2023 sagte der Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn (9´41´´ folgende):
„Die Frage ist bloss die: Will man eigentlich immer sozusagen Frieden schließen, indem man die Geschichte rückabwickelt? Geht es eigentlich um die Menschen, geht es um die Steine, das Territorium, oder geht es um menschliche Sicherheit?“
Kurz darauf beantwortet der Professor seine Frage folgendermaßen selbst (9´56´´ff.):
„Den Aserbaidschanern geht es nicht um die Menschen, die dort leben, sondern es geht ihnen um den Sieg, die Revision dessen, wo sie ´93/´94 eine Niederlage erlebt haben.“
Das Unrecht, das Aserbaidschan durch die von Armenien unterstützten Separatisten vor mehr als 30 Jahren erlitten hat, die Vertreibung von bis zu einer Million Aserbaidschanern aus Karabach und den anderen von Armenien bis 2020 völkerrechtswidrig okkupierten Gebieten, die Ermordung und Folterung zahlreicher Aserbaidschaner unter anderem in Kriegsverbrechen wie dem von Chodschali (Februar 1992), bei dem allein mehr als 600 Zivilisten von armenischen Truppen massakriert wurden, fallen also in den Augen des Politikwissenschaftlers als Erklärung und Motivation für das aserbaidschanische Eingreifen überhaupt nicht ins Gewicht. Aber strenggenommen spricht Heinemann-Grüder ja nicht einmal von diesen aserbaidschanischen Opfern (obwohl der Botschafter Aserbaidschans in derselben Sendung wenige Minuten davor explizit an sie erinnert hat), sondern hat nur von den „Menschen, die dort leben“, also die ethnischen Armeniern, im Blick – die Aserbaidschaner Karabachs waren ja schon längst von Armeniern ermordet oder vertrieben worden. Statt der Sorge um die Menschen diagnosiziert Heinemann-Grüder als Beweggründe der Aserbaidschaner Triumphsucht und Revisionismus.
Alle bisherigen Äußerungen von aserbaidschanischer Seite, darunter Ankündigungen des Staatspräsidenten Ilham Alijew, aber auch die Äußerungen, die der Botschafter Aserbaidschans in Deutschland in derselben Sendung macht, weisen allerdings bislang darauf hin, dass man sich sehr wohl um das Wohl der Bewohner Karabachs Gedanken macht, und zwar, in den Worten Ilham Alijews, „unabhängig von ihrer ethnsichen Zugehörigkeit“.
Das am Ende erfolgreiche Unternehmen Aserbaidschans, seiner eigenen Souveränität und territorialen Unversehrheit wieder zu Geltung zu verhelfen, dient aus der Sicht Heinemann-Grüders dagegen nicht dazu, die Sicherheit der ethnisch aserbaidschanischen Bevölkerung in Karabach wiederherzustellen und die Folgen des erlittenen Unrechts zu miminieren. Vielmehr handele es sich um den Versuch, Geschichte „rückzuabwickeln“.
Heinemann-Grüders Bild vom „Rückabwickeln der Geschichte“ als solches weist auf eine Situation hin, in der historisch gewachsene Realitäten, mit denen man sich besser abfinden sollte, in Frage gestellt werden. Aserbaidschan wird dadurch, dass es mit diesem Sprachbild belegt wird, als ein revisionistischer und aggressiver Staat hingestellt, der aus nicht nachvollziehbaren, machtstrategischen oder nicht legitimen Gründen (wie Sehnsucht nach einem Sieg) heraus agiert beziehungsweise Militäraktionen vom Zaun bricht. Durch diese Darstellungsweise wird Aserbaidschan die Rolle eines Landes zugewiesen, das Bestehendes in Frage stellt und dadurch Schwierigkeiten und Ärger herbeiführt. Es wird ihm die Rolle des Täters zugewiesen und die des Opfers abgesprochen. Faktisch läuft die Argumentation auf eine Art Täter-Opfer-Umkehr hinaus.
Im Ergebnis bringt Heinemann-Grüders Sicht das Postulat zum Ausdruck, dass Staaten, die Opfer fremder Aggression, Besetzung und ethnischer Säuberung geworden sind, sich – zumindest nach einer gewissen Zeit – mit diesen Geschehnissen abfinden müssen. Auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine übertragen hieße dies dann: Die Ukraine soll sich, nachdem eine gewisse Zeit vergangen sein wird, einfach mit den von Russland geschaffenen völkerrechtswidrigen Fakten, mit den Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin und zahllosen anderen Orten abfinden. Ansonsten wird man es als revisionistische Macht bezeichnen.
Bezeichnenderweise geht Heinemann-Grüder, wie auch die Moderatorin, kaum auf die sehr eloquente und kohärente Darstellung der aserbaidschanischen Sichtweise durch den Botschafter Aserbaidschans in Berlin, Nasimi Aghayev (Minute 5´48´´ff.) ein, sondern bewertet den Konflikt vor allen Dingen aus der Perspektive Armeniens. Im Unterschied zu Aserbaidschan erscheint Armenien dabei überwiegend als Opfer der Umstände, aber nicht als Akteur und Herr seines Geschicks. Dementsprechend steht für Heinemann-Grüder auch schon fest, dass ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan nur ein „Friedensdiktat“ Aserbaidschans sein könne (8´19´´ff.).
Der Ratschlag, den der Politikexperte für Armenien für die Zukunft hat, sich nämlich um einer EU-Beitrittsperspektive zu bemühen (10´46´´), wirkt angesichts von Heinemann-Grüders eigener Feststellung, dass die EU in den über 30 Jahren vor der Beendigung des Konflikts „diplomatische Scheinverhandlungen“ mit beiden Seiten geführt habe („man hat den beiden Seiten keine substanziellen Angebote gemacht“, 3´21´´ff.), nicht sonderlich überzeugend.
Quellen
Heinemann-Grüder et al. 2023. Heinemann-Grüder, Andreas et al. Bergkarabach-Konflikt: Einordnung von Konfliktforscher Prof. Heinemann-Grüder (Uni Bonn) am 29.9.2023 [Video zu einer Sendung des Senders Phoenix]. Https://www.youtube.com/watch?v=i92TbHmEzP0 [besucht am 30. September 2023].