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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Geschichtsklitterung aus dem Hause "taz"

28. August 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich erlaube mir, Ihnen einen offenen Leserbrief als Reaktion auf Ihren Artikel von Tigran Petrosyan zum Thema „Karabach“ vom 28. Augst 2023 zu schicken. Dieser Leserbrief wird zeitgleich mit der Übersendung an Sie im Internet veröffentlicht, unter anderem auf meiner persönlichen Facebook-Seite „Michael Reinhard Heß“.

Der in der „taz“ am 28. August 2023 erschienene Beitrag Petrosyans enthält eine Reihe von eklatanten Sachfehlern, die meiner Ansicht nach unbedingt korrigiert werden müssen, um zu einer unvoreingenommenen Sicht auf die Dinge zu kommen.

Zum einen behauptet Petrosyan, Aserbaidschan habe im Herbst 2020 „die Region Bergkarabach“ „völkerrechtswidrig“ angegriffen. Das ist irrig. Denn das Völkerrecht (unter anderem in Form mehrere UN-Sicherheitsresolutionen aus dem Jahr 1993) hat die gemeinten Gebiete immer als Teile Aserbaidschans bestätigt, genauso, wie Karabach während der gesamten Sowjetzeit de jure und de facto immer Teil der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik war (eventuell mit der einen Ausnahme des einen einzigen Tags vom 4. auf den 5. Juli 1921, wo dieser Status vorübergehend und folgenlos in Frage gestellt wurde).

Ebenfalls nicht richtig ist Petrosyans Darstellung, dass Josef Stalin die „Region Bergkarabach“ im Juli 1921 „auf Drängen Bakus“ an „Sowjetaserbaidschan abgetreten“ habe. Zunächst einmal fällt jedem unbeteiligten Leser sofort der inhärente Widerspruch in dieser vollkommen erfundenen Behauptung auf. In Petrosyans Darstellung ist Stalin, also ein Mitglied der Moskauer Führung der Bolschewiki, der treibende Akteur bei der angeblichen „Abtretung“ des Gebiets an Baku. Wie könnte es unter dieser Voraussetzung dann aber zu dieser (erfundenen) Behauptung passen, dass Stalin – der in Petrosyans fehlerhaftem Narrativ als ein machtvoller Handelnder und Auslöser der territorialen Umdefinition dargestellt wird – dann in demselben Narrativ ausgerechnet von der Regierung einer peripheren, erst ein Jahr zuvor von den Bolschewiki gewaltsam unterjochten Sowjetrepublik so unter Druck gesetzt werden hätte können, dass er auf „auf Drängen Bakus“ handelte? In Petrosyans fiktiver Version der Geschichte werden Stalin zwei Rollen zugeschrieben, die einander bei genauem Hinsehen diametral entgegengesetzt sind und praktisch ausschließen, nämlich die des machtvollen sowjetischen Politikers in der Moskauer (!) Zentrale und des hilflosen, „bedrängten“ Opfers in den Händen der Bakuer (!) Sowjetregierung. Soll hier allen Ernstes behauptet werden, Lenin, Stalin, Zinowjew, Kamenew, Trotzki oder irgendeine anderer wichtige Führungsfigur der Moskauer Bolschewiki habe jemals eine wichtige Entscheidung „auf Drängen Bakus“ gefällt?

Aber auch sonst stimmt rein gar nichts an der Darstellung Petrosyans. Die Probleme fangen schon damit an, dass „Bergkarabach“ erst im Jahr 1923 in Form der Autonomen Oblast Berg-Karabach (NKAO) zu einer offiziellen administrativ-juristischen Bezeichnung im Reich der Bolschewiki beziehungsweise in der Sowjetunion erhoben wurde. Schon aus diesem Grund konnte niemand, auch Stalin nicht, die Region im Jahr 1921 strenggenommen an jemanden übertragen. In diesem Zusammenhang stellt es ein zwar kleines, aber nicht ganz unbedeutendes Detail dar, dass im letzten der Beschlüsse des Kaukasusbüros aus dem Jahr 1921, dem vom 5. Juli, von Nagornyj Karabach und nicht *Nagorno-Karabach die Rede ist, also eine Schreibweise verwendet wird, die nicht zwangsläufig darauf hindeutet, dass die beiden den Begriff konstituierenden Wörter zu einer Einheit verschmolzen worden seien (wie in „Bergkarabach“), sondern eine, bei der man beide Bestandteile auch als nach wie vor selbständige Lexeme („Bergiges Karabach“) erkennbar sein können. Die Rede war also während der entscheidenden Sitzungen des Kaukasusbüros in den entscheidenden Beschlüssen des Kaukasusbüros vom 4. und 5. 1921 nicht von einer bereits bestehenden politischen oder juristisch-administrativen Entität, sondern von einem auf eine bestimmte Weise beschriebenen Gebiet innerhalb Aserbaidschans.

Jeder, der sich mit der Geschichte Karabachs in der Sowjetzeit etwas näher beschäftigt hat, weiß außerdem, dass in dem maßgeblichen Beschluss des Kaukasusbüros vom 5. Juli 1921 mitnichten von Abtretung der Region in Aserbaidschan, sondern von Verbleibenlassen (russisch ostavit´) innerhalb Aserbaidschans die Rede ist. Das ist genau das Gegenteil dessen, was der Autor behauptet.

Die ebenfalls von Petrosyan aufgestellte These, Stalin habe bei der Fassung dieses Beschlusses die entscheidende Rolle gespielt, kann sehr leicht durch einen Blick auf die historischen Fakten widerlegt werden. Erstens war Stalin damals noch nicht Vorsitzender des ZK der Sowjetunion, was er erst am 30. Dezember 1922 wurde, hatte also beileibe noch nicht jene die Machtfülle, die ihm Petrosyan unterstellen will (abgesehen davon, dass Stalins Machtfülle auch in dieser Rolle noch bis mindestens gegen Ende der 1920er Jahre deutlichen Beschränkungen unterworfen war), zweitens war das Kaukasusbüro im Jahr 1921 keine Institution, die von einer einzigen Person gelenkt oder dominiert wurde, auch nicht von Stalin. Und drittens, was angesichts der Reproduktion armenischer Geschichtsmythen, derer Sie sich in dem Artikel befleißigen, vielleicht nicht ganz unwichtig ist, nahm Stalin an den betreffenden Sitzungen im Juli 1921 gar nicht teil, weil er nämlich nicht in Moskau war (er stand nur nominell auf der Teilnehmerliste des erhaltenen Auszugs aus dem Protokoll). Was in dem in Ihrer Zeitung erschienen Artikel betrieben wird, ist propagandistisch motivierte Geschichtsklitterung.

Ich spare es mir an dieser Stelle, all die Probleme zu wiederholen, die ich hinsichtlich des vonseiten der armenischen Separatisten und ihrer Unterstützer erhobenen Vorwurf des gegenwärtig angeblich drohenden „Genozids“ in den armenisch besetzten Gebieten Aserbaidschans sehe, und möchte Sie im Fall Ihres Interesses auf meinen offenen Brief an Luis Moreno Ocampo sowie an Ihre Kollegen vom „Tagesspiegel“ verweisen, die alle auf meiner oben erwähnten Facebook-Seite dokumentiert sind (neben zahlreichen anderen Beiträgen, die sich um Richtigstellung der einseitigen antiaserbaidschanischen Berichterstattung und Meinungsbildung in den deutschen sogenannten Qualitätsmedien bemühen). Als jemand, der die Ereignisse, denen Armenier ab 1915 zum Opfer gefallen sind, wiederholt (unter anderem in meinem 2016 erschienenen Buch „Panzer im Paradies“) als „Genozid“ anerkannt hat (auch um den Preis massiver Anfeindungen unter anderem aus der türkeitürkischen Community) und der diese Bezeichnung unter anderem nach intensiver Lektüre (von Werken Taner Akçams und anderer) nach wie vor für zutreffend und sinnvoll hält, scheint mir der Vergleich zwischen diesem unvorstellbar schrecklichen historischen Geschehen und der aktuellen Situation in den von armenischen Separatisten nach wie vor völkerrechtswidrig okkupierten Gebieten Aserbaidschans, auf dem ein Großteil des rhetorischen und moralischen Impetus des Textes von Petrosyan beruht, inflationär, weit hergeholt und nicht zutreffend. Was wären die Kriterien eines solchen Vergleichs? Statt handfeste Belege zu liefern, warum das Geschehen in Karabach Parallelen zu den Ereignissen von 1915 und den folgenden Jahren haben soll, scheint mir Petrosyan zugleich mit dem Vergleich zwischen beiden historischen Perioden mindestens ebenso stark auf eine Kontinuität abzuzielen, zumal die vermeintliche Opfergruppe in beiden Fällen als dieselbe definiert wird (indem Petrosyan fragt, on ein „zweiter Genozid an ethischen Armenier:innen“ drohen könne). Zumindest sind in seiner Argumentation historische Parallelisierung und historische Kontinuität nicht sauber voneinander getrennt. Dies ist in methodologischer Hinsicht extrem problematisch, nicht nur, weil es sich um zwei klar verschiedene Betrachtungsweisen handelt, sondern auch, weil Petrosyan die Glaubhaftigkeit seiner eigenen Position dadurch selber unterminiert. Eine Kontinuität zwischen dem Genozid von 1915 und irgendwelchen Ereignissen ab der spätsowjetischen Periode würde unter anderem präsupponieren, dass während der gesamten sowjetischen Periode der angebliche Genozid an den Armeniern weitergegangen wäre, was eine so absurde Idee ist, dass man sie nicht weiter zu besprechen braucht.

Zum Schluss erlaube ich mir den Hinweis, dass der Ausdruck „armenisches Bergkarabach“, den Petrosyan gleich im Untertitel einführt, sehr leicht so verstanden werden kann (und, wie ich vermute, auch verstanden werden soll), dass Karabach nicht international und völkerrechtlich anerkannter Teil Aserbaidschans sei (sondern von was? von Armenien?). Damit macht sich der Autor eine separatistische Rhetorik zu eigen, nach deren Logik es ohne Weiteres auch möglich wäre, in Bezug auf die Gegenwart des Jahres 2023 von einer „russischen Krim“ oder einem „russischen Donbass“ zu sprechen. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht dazu sagen.

Mit freundlichen Grüßen

PD Dr. Michael Reinhard Heß, M. A.