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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Tendenz oder nicht?

28. Oktober 2020

Einige Reaktionen auf meine Posts zu Berg-Karabach haben die von mir beobachtete Tendenz zur einseitigen, eher pro-armenischen Berichterstattung deutscher Mainstream-Medien über den Konflikt angezweifelt. Sehe ich Gespenster? Um mich selbst zu testen, sah ich mir vorhin in der ARD-Mediathek den untenstehenden Beitrag an.

Vorab: Man kann aus allem etwas lernen, und insbesondere für Zuschauer, die mit dem Konflikt fremdeln, ist das Video als Einstieg recht informativ.

Die antiaserbaidschanische Richtung zeigt sich aber auch hier schon bald. Zum Beispiel darin, dass die historische Dimension der Ansprüche Aserbaidschans auf sein Territorium überhaupt nicht zum Tragen kommt. Stattdessen zitiert die Expertin – immerhin, ohne sich die betreffende Sichtweise zu eigen zu machen, aber in der faktischen Auswahl eben doch eine bestimmte Tendenz wiedergebend – die Begründung armenischer Ansprüche auf Berg-Karabach mit einem Hinweis auf Tigran den Großen (armenisch Tigran Mec, Տիգրան Մեծ), der von ca. 140 bis 55 v. Chr. lebte (ab Minute 17: 14).

Auch wenn die Spezialistin sich die hinter dem Bezug auf diese historische Persönlichkeit stehende Interpretation der Geschichte nicht zu eigen macht, besteht Einseitigkeit darin, dass sie nicht im Gegenzug – in dem Aserbaidschan gewidmeten Teil der Sendung – auch mindestens einen funktional analoge aserbaidschanische Mythos zitiert. Durch die isolierte Benennung Tigrans kann – oder soll? – der Eindruck entstehen, dass es eine Kontinuität armenischer Präsenz oder armenischer Ansprüche von ungefähr dem 1. Jahrhundert v. Chr. bis heute gibt.

Auch wenn es nur ein vielleicht nicht ganz ernst gemeinter Griff in die historische Mythenkiste ist, finde ich es dennoch immer riskant, so etwas zu verbreiten, weil aus der Literatur über den Berg-Karabach-Konflikt ja bekannt ist, wie selbst aus extrem weit zurückliegenden oder nur hypothetischen historischen, sprachlichen oder mythologischen Elementen mitunter sehr weitreichende und auch in die Gegenwart wirkende Schlussfolgerungen gezogen werden können.

Die aserbaidschanisch-muslimische Geschichte Karabachs, und somit auch Berg-Karabachs, etwa das Khanat Karabach (1747/1748-1822), wird in der ARD-Sendung mit keinem Wort gestreift.

Durch diesen Themenmix entsteht bei den Zuschauern das Bild eines tief in der Geschichte verwurzelten Armeniens – natürlich wird auch die frühe Christianisierung der Armenier in der Antike ausführlich behandelt – dem ein auf Öl, aktuelle Bündnispolitik, Bruderschaft mit der Türkei, Islam, autoritäre Regierung und anderes reduziertes praktisch geschichtsloses Aserbaidschan gegenübersteht. Wenn man nicht andere Informationsquellen zu Rate zieht, könnte man fast versucht sein zu fragen, was die Aserbaidschaner da eigentlich zu suchen hätten. Wenn das nicht eine subtile Form der tendenziösen Berichterstattung ist, was dann?

Anscheinend hat die ARD-Redaktion nicht nur mit der historischen und ideologischen Einordnung des Konflikts so ihre Schwierigkeiten, sondern auch mit gewissen komplizierten deutschen Fachtermini, wie „Exklave“ und „Enklave“. Nakhitschewan wird als „armenische Exklave Nakhitschewan“ tituliert (ab Minute 7:22), obwohl Nakhitschewan bekanntermaßen (auch) völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Noch besser kommt es ab Minute 14:25, wo wir „Berg-Karabach, die armenische Enklave in Aserbaidschan“ kennenlernen, und das, obwohl in dem Streifen zuvor immerhin in korrekter Weise die völkerrechtliche Zugehörigkeit Berg-Karabachs zu Aserbaidschan hervorgehoben worden ist. Zur Erinnerung: die völkerrechtliche Zugehörigkeit Berg-Karabachs zu Aserbaidschan ist der Kern des ganzen Konflikts. Dass hier beiläufig eine Situation imaginiert wird, die die kühnsten Träume armenischer Eroberer und Okkupanten befriedigt, kann einem zu denken geben.