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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Auch die "Welt" argumentiert imperialistisch

28. August 2023

Auch die "Welt" argumentiert imperialistisch

Selbst die "Welt" stimmt in den Chor der "Genozid"-Rhetorik ein. Was mich an dem Artikel von Pavel Lokshin besonders verwundert, ist die offenbar als selbstverständlich hingenommene Anwendung von Doppelstandards bei der Beurteilung beispielsweise der russischen Aggression gegen die Ukraine und der armenischen Aggression gegen Aserbaidschan.

Der Kernsatz, an dem Lokshins Position hänght, lautet: "Die Region gehörte zu Zeiten der Sowjetunion zu Aserbaidschan, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt." Hinzuzufügen wäre, dass die Region auch nach dem Ende der Sowjetunion international mehrfach und unzweideutig als Teil Aserbaidschans anerkannt worden ist, unter anderem durch die bekannten Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1993. Aber das spielt für Lokshin offenbar eine weniger wichtige Rolle im Vergleich zu der Tatsache, dass das Gebiet mehrheitlich von Armeniern bewohnt ist (was es in ganz besonders hohem Maße ist, nachdem armenische Truppen und ihre Verbündeten die aserbaidschanische Bevölkerung Anfang der 1990er Jahre von dort vertrieben haben, aber solche historischen Details sind für einen Presseartikel offenbar zu viel).

Mit anderen Worten: Für die Legitimität staatlicher und territorialer Zugehörigkeit, mithin auch für die Legitimität von im Namen der Erhaltung und Verteidigung der territorialen Integrität geführter Kriege, ist nach Lokshin nicht das Völkerrecht entscheidend, sondern die Bevölkerungszahl oder -dichte. Dass die hohe armenische Bevölkerungsdichte in bestimmten Gebieten Karabachs nicht nur seit der Zerfallsphase der Sowjetunion durch ethnische Säuberungen künstlich und drastisch erhöht wurde, sondern überhaupt erst eine Folge systematischer russischer Ansiedlungspolitik von Armeniern in Aserbaidschan seit 1828 war, wäre ein anderes entscheidendes historisches Detail, das ebenfalls nicht zur Sprache kommt.

Das in der "Welt" zum Ausdruck kommende Denken ist nicht nur in nichts unterscheidbar von den imperialistisch-aggressiven Prinzipien, nach denen Russland auf ukrainischem Territorium separatistische Gebilde installiert hat, es hat offensichtlich auch mindestens teilweise dieselbe Quelle wie der russische Imperialismus. Denn der armenische Separatismus in Aserbaidschan konnte sich nur dank der russischen Unterstützung ausbreiten.

Wenn man von der Ebene des "Kampfbegriffs" (der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit bezeichnete seine aktuelle Vewendung durch armenische und proarmenische Quellen so) "Genozid" und der imperialistischen Rhetorik auf die Ebene der Fakten zurückkehrt, bleibt festzustellen, dass nach dem aserbaidschanischen Sieg im 44-Tage-Krieg von 2020 und mit dem absehbaren Niedergang von Russlands imperialistischen Ambitionen durch dessen gegen die Ukraine entfesselten barbarischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg auch das Ende des armenischen Separatismus in Aserbaidschan, der sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus ähnlichen imperialistischen Wahnvorstellungen speist wie die Politik Putinrusslands, am Horizont erscheint. Es ist die Schwächung ihres alten Herren und Meisters Russland in Verbindung mit einer entscheidenden militärischen Schwächung, die die Separatisten in den armenisch besetzten Gebieten Aserbaidschans die altbewährte rhetorische Keule des "Genozids" herausholen lässt.

Quellen

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/nur-ein-kampfbegriff-warum-europa-die-warnungen-vor-einem-genozid-ignoriert/ar-AA1fQ7Cl?ocid=msedgntp&cvid=7caca49db81047d289a44f206841fda3&ei=10