Karabach: Geschichtsklitterung vom SRF
„Dann, beim Zerfall der Sowjetunion, gab es wieder Pogrome und Vertreibungen gegen Armenierinnen und Armenier, die in Aserbaidschan lebten, und vor diesem Hintergrund haben die Karabach-Armenier 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt und haben sich im anschließenden Krieg durchgesetzt, und das galt dann als erstes Mal, als sich Armenierinnen und Armenier erfolgreich verteidigen konnten“, sagt der Autor der Analyse des SRF, Calum MacKenzie (ab Minute 2´00´´)
Ich nehme stark an, dass MacKenzie mit den angeblichen Pogromen und Vertreibungen, die er anspricht, auch das sogenannte Pogrom vom Sumgait von 1988 meint. Denn die Gewaltexzesse in der Stadt Sumgait waren (abgesehen vom Tod zweier Aserbaidschaner am 22. Februar und wohl dem von vier Armeniern, der sich wenige Tage ereignete; alle diese Todesfälle ereigneten sich bei erhitzten Demonstrationen in Karabach) offensichtlich das erste Vorkommnis im gesamten spätsowjetischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan überhaupt, das nach irgendeiner Definition überhaupt als „Pogrom“ (was auch immer das Wort in dem Kontext bedeuten mag) bezeichnet werden könnte.
In dem obigen Zitat aus dem SRF-Bericht ist eine Interpretation der Ereignisse vom Ende der 1980er und Beginn der 1990er Jahre erkennbar, bei der die angeblichen Pogrome gegen Armenier in Aserbaidschan die Ursache für die Erklärung der „Unabhängigkeit“ durch die karabacharmenischen Separatisten im Jahr 1991 gewesen sei. Dies legt die Formulierung „vor diesem Hintergrund nahe“.
Selbst wenn man die Hypothese, dass es sich bei den Ereignissen von Sumgait von 1988 um ein Pogrom gehandelt habe, gegen die es gewichtige Argumente gibt, akzeptieren würde, wäre diese Darstellung der Dinge leicht als Geschichtsverfälschung zu entlarven.
Die ersten Morde in Sumgait geschahen am 28. Februar 1988.
Doch bereits am 20. Februar 1988 hatten die armenischen Deputierten des Regionalsowjets der Autonomen Oblast Berg-Karabach (NKAO) eine Erklärung publiziert, die von vielen, vor allen Dingen in der armenischen Community, als Formulierung von separatistischen Ansprüchen auf aserbaidschanisches Territorium angesehen wird, und die in einem großen Teil der (auch wissenschaftlichen Literatur zum Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan als Beginn der spätsowjetischen Konfliktphase betrachtet wird). Bereits vor diesem Datum hatte es, beginnend 1987, eine Serie von Massenveranstaltungen sowohl in Sowjetarmenien als auch in armenisch besiedelten Gegenden Aserbaidschans, gegeben, die sich in ähnlicher Weise für die Sache der Separatisten aussprach. Ich spare mir hier das Anführen von Details, sie sind in der historischen Fachliteratur nachzulesen.
Indem Calum MacKenzie die Erklärung der „Unabhängigkeit“ der Karabacher Separatisten als Folge angeblicher Pogrome hinstellen möchte, ignoriert er somit einen wesentlichen Teil des historischen Kontextes, einschließlich des entscheidenden Umstandes, dass die separatistisch-nationalistische Karabach-Bewegung den sogenannten „Pogromen“, die MacKenzie sehen möchte, unwiderlegbar vorausging. Er stellt die historische Entwicklung auf den Kopf.
Diese Form der über einen staatlichen Radiosender ausgestrahlten einseitigen Geschichtsklitterung finde ich umso unerträglicher, als sie erkennbar dem Zweck dient, die antiaserbaidschanische, proarmenische Sichtweise des gesamten Audiobeitrags zu unterstreichen.
Diese Einseitigkeit manifestiert sich allein schon in der Darstellung MacKenzies, dass der Krieg, in dem die Separatisten sich dann durchgesetzt hätten, „als erstes Mal“ galt, „als sich Armenierinnen und Armenier erfolgreich verteidigen konnten“. Mit diesem Durchsetzen meint MacKenzie offensichtlich das Ergebnis des durch den Waffenstillstand 1994 besiegelten Kriegs, durch den nicht nur das Territorium der vormaligen NKAO, sondern auch sieben es umgebende Rayons Aserbaidschans von den Separatisten okkupiert wurden. Das war kein Akt der Verteidigung, sondern der Eroberung und Besetzung fremden Territoriums, zumal Territoriums, in dem sich niemals ein signifikanter Anteil ethnisch armenischer Bevölkerung konzentriert hatte.
In der Summe macht sich der SRF eine Wortwahl und Interpretation zu eigen, die ausschließlich die Sichtweise armenischer Nationalisten transportiert und die Einwände von aserbaidschanischer Seite gänzlich außer Acht lässt. Auf der Grundlage historischer Desinformation reproduzieren sie Mythen über die Geschichte des Südkaukasus, die dem altbekannten Muster ,gute Christenʻ gegen ,böse Muslimeʻ beziehungsweise armenische Demokratie gegen aserbaidschanische Autokratie ist. Das eigentliche Ziel des Beitrags ist nicht die Information der Öffentlichkeit, sondern deren Aufhetzung.
Quellen
MacKenzie 2023. MacKenzie, Calum: Konflikt im Südkaukasus – Verlust von Bergkarabach: für Armenien ein nationales Trauma [Artikel/ Begleittext zu einer Audiosendung aus dem Online-Angebot des SRF, aktualisiert am 29. September 2023, 20 Uhr MESZ]. Https://www.srf.ch/news/international/konflikt-im-suedkaukasus-verlust-von-bergkarabach-fuer-armenien-ein-nationales-trauma [downgeloaded am 30. September 2023, 16 Uhr 12 MESZ].