"Phoenix" manipuliert die Geschichte Karabachs
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe mir eben die Sendung „phoenix tagesgespräch mit Nasimi Aghayev (Botschafter der Republik Aserbaidschan)“ auf Youtube angesehen (https://www.youtube.com/watch?v=lUVE6m-y4uw).
Das Folgende ist ein Offener Leserbrief, den ich zugleich auch im Internet veröffentliche, unter anderem auf meiner Facebook-Seite „Michael Reinhard Heß“.
Ab Minute 1: 23 sagt der Phoenix-Moderator Folgendes:
„Die Geschichtsschreibung geht ja ein bisschen anders. Es gibt seit dem zweiten Jahrhundert vor Christi in dieser Region ja vor allem armenischstämmige Menschen, die dort leben, und ganz Bergkarabach gibt es nur eine verschwindend geringe Anzahl von aserbaidschanischstämmigen Einwohnern.“
Durch die Berufung auf „Geschichtsschreibung“ erweckt der Sprecher den Eindruck, als ob die von ihm erfundenen Behauptungen historische Tatsachen darstellten. Dass es „in dieser Region“ seit dem zweiten Jahrhundert vor Christi keineswegs „vor allem armenischstämmige Menschen“ gegeben hat, lässt sich indes durch einen Blick in beliebige Werke seriöser Geschichtsschreibung rasch erkennen.
Um Sie nicht zu ermüden, möchte ich Sie nur auf eine einzige historische Untersuchung hinweisen, die aus einer rezenten Publikation eines bekannten armenischen Historikers stammt. Diese beruft sich auf die „Statistische Beschreibung der Provinz Karabach“ (russisch: Statističeskoe opisanie Karabachskoj Provincii), einer wichtigen russischsprachigen Primärquelle aus dem Jahr 1823. Dieser Quelle zufolge gab es in der damaligen „Provinz Karabach“ 20,095 Familien, von denen 15,729 muslimisch (also zum wichtigen Teil aserbaidschanisch) und 4,366 armenisch gewesen seien (Bournoutian 2011: x und folgende). Der Bevölkerungsanteil der Armenier betrug somit ungefähr 21,7 Prozent.
Abgesehen davon, dass die Darstellung des Moderators sehr leicht als kontrafaktisch erwiesen werden kann (wenn zu einem einzigen Zeitpunkt zwischen 200 v. Chr. und heute die Armenier in eine Gegend in der Minderheit waren, kann es gar nicht stimmen, dass sie „seit“ 200 v. Chr. dort die Mehrheit gewesen sein sollen), verschweigt dessen Hinweis darauf, dass heute in „ganz Bergkarabach“ „nur eine verschwindend geringe Anzahl von aserbaidschanischstämmigen Einwohnern“ lebt, die historisch ebenfalls sehr leicht nachweisbare Tatsache, dass die Reduktion und schließlich das Verschwinden des aserbaidschanischen Bevölkerungsanteils eine Folge unter anderem von durch das Russische Reich ab 1828 betriebener systematischer Erhöhung des armenischen Bevölkerungsanteils in im von Russland eroberten Südkaukasus sowie dann ab 1991 die Folge der von Armeniern betriebenen ethnischen Säuberung des Gebiets der vormaligen Autonomen Oblast Nagorno-Karabach (NKAO) war. Indem der Moderator diese für das Verständnis der historischen Entwicklung der letzten zweihundert Jahre entscheidenden Umstände verschweigt, versucht er seine, wie oben gezeigt, irrige, These von der kontinuierlich mehrheitlich armenischen Besiedlung „Bergkarabachs“ seit der Antike zu untermauern und so darzustellen, als sei es die communis opinio in „der Geschichtsschreibung“.
Diese verzerrte Sichtweise stellt eine heutige Bevölkerungssituation, die eindeutig die Folge russischen Imperialismus und armensicher Aggression, Okkupation und ethnischer Säuberung war, als quasi natürlich gegeben hin, und dadurch, dass diese Darstellung direkt neben dem Mythos von der mehrheitlich armenischen Bevölkerung in Karabach seit der Antike platziert wird, erweckt der Interviewer den Eindruck, dass die heutige Bevölkerungssituation eine Art Bestätigung seiner falschen These sein könnte. Diese Argumentationsweise ist nicht nur unsachlich und unseriös, sondern den aserbaidschanischen Opfern des russischen Imperialismus und der armenischen Okkupation gegenüber auch zynisch.
Ich erspare es uns, hier detaillierter auf weitere inkohärente Punkte in dem oben zitierten Statement des Moderators einzugehen. Diese betreffen etwa die Rückübertragung des (erst 1918 entstandenen) Begriffs „Bergkarabach“ auf die Zeit vor Christi Geburt, aber auch die fragwürdige These, dass bereits in der Antike die dortige Bevölkerung mehrheitlich armenisch (nach Kultur und oder Sprache) gewesen sei. Es gibt meines Wissens gar keine verlässlichen Bevölkerungsstatistiken für die sämtliche Phasen der historischen Entwicklung von der Antike über das Mittelalter bis in die Frühneuzeit, in der neben ethnischen Armeniern in der betreffenden Gegend auch Griechen, diverse iranischsprachige Ethnien, Aramäer, Römer, Kaukasusalbaner und später Araber, Khasaren und Turkvölker eine wichtige Rolle spielten. Daher kann man auch nicht behaupten, dass die Armenier in der dem Gebiet der NKAO entsprechenden Gebiet immer die Bevölkerungsmehrheit gestellt hätten.
Ich bin enttäuscht, dass in einem öffentlich-rechtlichen Medium, das aus Steuergeldern finanziert wird, unbesehen erfundene Behauptungen als Wahrheit der „Geschichtsschreibung“ präsentiert werden. Dadurch reiht sich auch Phoenix in das Konzert der Medienmehrheit ein, die derzeit unbesehen aserbaidschankritische und -feindliche Thesen verbreiten, auch wenn diese sich mit der Wirklichkeit nicht in Einklang bringen lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Heß
Zitierte Literatur
Bournoutian 2011. Bournoutian, George A.: The 1823 Russian Survey of the Karabagh Province. A Primary Source on the Demography and Economy of Karabagh in the Early 19th Century. Annotated Translation from the Original 1866 Edition with an Introduction and Commentary. Costa Mesa, California: Mazda
Quellen
https://www.youtube.com/watch?v=lUVE6m-y4uw