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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Achtet auf die Sprache

6. Dezember 2022

Hand aufs Herz: Bis zum Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hat sich im deutschsprachigen Raum außerhalb von Osteuropaexperten-Kreisen kaum jemand für die Unterschiede zwischen Ukrainisch und Russisch oder für die Bedeutung und den Hintergrund von Namensvarianten wie Lugansk/ Luhansk interessiert. Nun zeigt sich mit unverhoffter Wucht, dass die Sprache(n) selber und ihre Verwendung ungeheuren Einfluss auf die Wahrnehmung und Strukturierung der Realität (was auch immer man darunter genau verstehen mag, hier verstehe ich darunter alles mit Sprache Bezeichenbare) hat, dass Sprache(n) aber auch als unerwartet starkes und präzises Instrument dienen kann, um die Realität(en) zu erkennen. Philologie und Linguistik sind keine exakten Wissenschaften und sie waren es nie. Aber ihre Methoden und Schlussfolgerungen können zu Ergebnissen und Denkvorschlägen führen, die dann auf andere Weise verifiziert werden können.

In Bezug auf den Karabach-Konflikt reicht es in aller Regel, die Verwendung bestimmter juristischer Termini und Ortsnamen zu betrachten, um relativ gute Anhaltspunkte darüber zu gewinnen, wo der sie verwendende Autor ideologisch positioniert ist.

Hier ein Leserbrief, den ich zu diesem Thema eben an den SPIEGEL geschrieben habe (zu dem verlinkten Artikel):

"Der ganze Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan dreht sich um territoriale Ansprüche auf aserbaidschanisches Staatsgebiet. Es geht darum, wer rechtmäßigen Anspruch auf bestimmte Gebiete hat und wer als Aggressor und Besatzer auftritt.

Während die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen mehrfach und unmissverständlich festgestellt haben (unter anderem in den bekannten Sicherheitsresolutionen von 1993), dass Karabach zu Aserbaidschan gehört. spricht Ann-Dorit Boy von einem "Rumpfstaat" und einer "Exklave" in "Bergkarabach". Mindestens die beiden ersten Termini negieren die territoriale Integrität und Souveränität Aserbaidschans und fantasieren die Existenz eines staatlichen Gebildes herbei, das es nicht gibt und niemals gegeben hat. Nicht einmal Armenien hat bekanntermaßen das von Ann-Dorit Boy an anderer Stelle als "De-facto-Regierung" apostrophierte separatistische Gebilde jemals anerkannt. Auch kein anderer Staat hat das jemals getan, was wiederum eine notwendige Voraussetzung für die Verwendung des Begriffs "Exklave" wäre.

Die klar antiaserbaidschanische und proarmenische Tendenz des Artikels (der im Übrigen auch durch die Nichtverwendung offizieller aserbaidschanischer Ortsnamen wie Khankendi zu Ausdruck kommt) wird dadurch nicht besser, dass die Autorin in demselben Satz, in der sie eine "Exklave" auf aserbaidschanischem Gebiet erfindet, in eklatant selbstwidersprüchlicher (aber immerhin diesmal wahrheitsgemäßer) Weise von einem "international nicht anerkannten Gebilde" spricht.

Terminologische und argumentatorische Unsauberkeiten und Verwirrungen wie ich sie in dem Beitrag entdecke, sind aus meiner Sicht einer der Gründe für die insgesamt einseitige und unsachgemäße internationale Wahrnehmung des Konflikts. Da sich dieselben Fehler im SPIEGEL seit Jahren in systematischer Weise wiederholen, sehe ich die Neutralität und Faktizität der SPIEGEL-Position im vorliegenden Fall als kompromittiert an.