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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

„Das Huhn und das Flugzeug“ von Israyil Ibragimov (Folge 1 aus der Serie „Ungelesene Romane“)

21. Mai 2024

„Das Huhn und das Flugzeug“ von Israyil Ibragimov

(Folge 1 aus der Serie „Ungelesene Romane“)

Dies ist der Beginn (und vielleicht schon das Ende) einer neuen Serie. Ich nenne sie „ungelesene Romane“. Die meisten Menschen lesen die meisten Romane nicht. Es gibt zu wenig Zeit. Und es gibt zu viele Romane. Aber es gibt viele Romane, die viele Menschen wahrscheinlich gerne lesen würde, wenn sie die Zeit dazu hätten. Oder Romane, aus denen man wahnsinnig viel lernen könnte, wenn man nicht anderes zu tun hätte. Vielleicht ist die Zeit des Romangenres am Ablaufen. Wir leben in einer Zeit, die immer weniger Zeit hat, sich Zeit zu nehmen. Wann kommt der erste Roman in SMS-Länge?

Mich haben oft literarische Werke interessiert, die kaum jemand liest. Erzählbände und Poesiesammlungen, die niemand kennt. Samizdatmanuskripte. Selbstverlegte Romane. Druckerzeugnisse, die kurz nach ihrem Erscheinen rasch vergriffen sind und kaum registriert werden. Romane, die von postsowjetischen Redaktionskollegien mit dem Zusatz versehen wurden, der Autor habe seinen eigenen Stil bewahrt. Idiosynkratische Texte, die von Publikum, Kritik und Wissenschaft verachtet, verlacht und verspottet werden. Literatur in Sprachen, die nur eine Handvoll von Leuten kennen. Werke, die stärker das Wesen, das Denken und die Sprache, einschließlich der Sprach- und Tippfehler, der Autoren ausdrücken, als dreimal lektorierte, perfekte Industrieliteraturprodukte aus großen Verlagen.

Die meisten Deutschen wissen mittlerweile wohl, wer die Uiguren sind. Eigentlich ist das eine bittere Ironie. Denn wir wissen das, weil die Kommunistische Partei Chinas und ihr Führer gerade die uigurische Kultur vernichten wollen. Erst der Vernichtungswille der Kommunistischen Partei Chinas hat uns die Existenz der Uiguren richtig bewusst gemacht. Es ist also gut, dass wir die Uiguren zumindest dem Namen nach kennen. Aber der Grund dafür ist zweifelhaft.

Es gibt Uiguren nicht nur in der Volksrepublik China (und in Ländern, in die sie aus diesem Staat geflohen sind), sondern unter anderem auch in postsowjetischen Republiken Zentralasiens. Wie zum Beispiel Kirgisien.

Die Uiguren Kirgisiens schreiben ihre Sprache in kyrillischen Buchstaben, weil das Land lange Zeit ein Teil der Sowjetunion war. Das Uigurisch der Uiguren von Kirgisien unterscheidet sich außerdem in einigen unwesentlichen Aspekten vom Uigurischen, das in der unter chinesischer Herrschaft stehenden historischen Heimat der Uiguren bis 2017 weit verbreitet war und dort seither praktisch aus dem öffentlichen Leben verschwunden ist (wenn es in Diktaturen so etwas wie „öffentliches Leben“ gibt). Einer der Unterschiede zwischen dem Uigurischen Kirgisiens und dem Xinjiangs: „Tränenreich“ heißt im Uigurischen von Kirgisien žiġlaŋgu (das ž spricht man aus wie das j im französischen bonjour, und ŋ klingt wie das deutsche ng in Zange). Ich komme auf das Wort žiġlaŋgu noch zurück. Im Uigurischen Xinjiangs sagt man stattdessen yiġlaŋgu (wobei y wie das deutsche j klingt).

Das war genug Vorgeplänkel. Jetzt komme ich zum eigentlichen Thema. Einem Roman, den selbst in Kirgisien und der uigurischen Community nur wenige gelesen haben dürften und der außerhalb davon so gut wie unbekannt ist. Der aber alles hat, was man von Literatur, und nicht nur Romanen, erwarten kann . Ein Roman, der unseren Blick auf uns selbst, auf die Welt, auf das Universum ändern könnte. Ein Roman, der das Wesentliche des Menschseins berührt. Ein Roman, der zu eurem Herzen sprechen wird und der eure Herzen zu ihm zurücksprechen lassen wird.

„Küken und Flugzeug“ (Jüjä vä samolet, gesprochen ungefähr Dschüdschä wä samaljot) von Israyil Ibragimov (1933) erzählt die Geschichte von Sabirä Pazilova.

In der Zusammenfassung des Inhalts, die ich statt des Romans gelesen habe (sonst wäre es kein ungelesener Roman mehr), heißt Sabirä Pazilova meistens Sabirä Hädä, „ältere Schwester Sabirä“. Es ist vielleicht einer der am schwersten zu übersetzenden Eigenschaften von Turksprachen: Die Benennung oder Anrede fremder Personen mit Wörtern, die eigentlich Verwandtschaftsbezeichnungen sind. Dadurch stellt man zugleich Nähe und Distanz her. Nähe, weil der Eindruck erweckt wird, dass alle einer einzigen großen Familie angehören. Distanz, weil diese Anrede in aller Regel keiner vulgär-anbiedernden Form der Annäherung dient, sondern Ausdruck großen und größten Respekts ist.

Sabirä Hädäs Geschichte fängt in der Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs an. Ihr sprechender Name verbindet sie mit anderen Dulderfiguren der Weltliteratur wie Hiob. Sabirä bedeutet „die Duldsame“. Alle von Sabiräs vier Brüdern müssen in den von den verfluchten Deutschen angezettelten Krieg ziehen. Sie haben auch alle sprechende Namen. Und zwar sind sie „Hängeohr“ (Salpaŋ qulaq), „Rotauge“ (Qizil köz), „Gernelach“ (Külkixumar) und Äŋ Žiġlaŋġu, „Der Tränenreichste“, der das bereits erwähnte Wort im Namen hat. Er wird als einziger aus der Kriegshölle heimkehren, und die Szene hat etwas von der Heimkehr des Odysseus. Doch bald darauf stirbt auch er, an Typhus, und lässt nur die „Geduldige Ältere Schwester“ Sabirä Hädä zurück.

Die noch junge, unbeugsame und zupackende Sabirä Hädä muss nun ihr schweres Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Im Sowjetstaat, der nach dem Ende des Weltkriegs aufblüht, arbeitet sie 30 Jahre in einer Fabrik. Sie macht sich verdient und erhält zahlreiche Auszeichnungen für ihre Arbeit. Alle Schwierigkeiten des Lebens mit ihrem behinderten Ehemann Toxtäm und dem gemeinsamen Sohn Adil („Der Gerechte“) meistert sie mit ihrer praktischen und lebensklugen Art. Doch was ist der Lohn für all die Mühe und Tapferkeit? Als sie nach 30 Jahren Rentnerin wird, ist sie so arm, dass sie als Putzhilfe und Technikerin weiterarbeiten muss.

An dieser Stelle kommt das „Küken“ (jüjä, gesprochen Dschüdschä), aus dem Romantitel ins Spiel. Es steht für das Elend, die Trauer und den Schmerz, die sich in Sabirä Hädäs Herz über ihr Leben hinweg angesammelt haben. Der unbekannte Autor des Vorworts zum Roman, auf dem mein Wissen über das Werk beruht, schreibt, dass in dieser von Mühsal, Kummer und schmerzlichen Erinnerungen geprägten Lebenssituation „all das Leid und all der Kummer in diese sanftmütige Frau fuhr, und ein Küken nistete sich in ihrem Herz ein, das immer mehr an ihm zu picken begann, als ob es nach Gerste pickte“ (bu mulayim ayalġa barliq därt-äläm čaplišip, žürigigä jüjä orunlišivelip uni barġansiri teriq čoquġandäk čoqušqa bašlidi.). Eines Tages, als Sabirä und Toxtäm zu einer Hochzeit unterwegs sind, pickt das Küken dann von innen ein Loch in Sabiräs Pericardium. Das Küken kommt aus der Schale, Sabirä stirbt, ihr Seelenvogel (ein uraltes Motiv der klassischen orientalischen Literatur) wird freigesetzt, zugleich ist sie von den Plagen dieser irdischen Welt erlöst.

Vergleicht man diese fiktive Erzählung mit der Lebensgeschichte des 1933 geborenen Autors, wird man zahlreiche Übereinstimmungen zwischen ihr und Figuren aus der Geschichte feststellen. Es handelt sich also sehr wahrscheinlich um einen Teil hautnah erlebter, durchlittener Wirklichkeit. So oder so ist die Narration in einem spirituellen Sinne wahr. Denn das in ihr Beschriebene ist so hunderttausendfach passiert und passiert immer noch. Die Grausamkeit und der Schrecken des Kriegs, Leid, Trennung, die Unwiederbringlichkeit des Lebens. Die Vergeblichkeit menschlichen Kämpfens und Strebens angesichts der unerbittlichen Gewalt des Schicksals.

Dies auf eine Weise zu erzählen, die das Herz berührt, und sogar dabei noch einen typisch uigurischen Humor zu bewahren, macht diesen ungelesenen Roman für mich zu einem wichtigen Werk der Weltliteratur. Ein Werk, dass eine Wende im Herzen bewirken kann.

Die Größe des Textes liegt auch darin, dass er alles andere als naiv ist. Auch wenn der Stil sich an offenbar an die „sozialistisch-realistische“ Tradition anlehnt und die Figuren zum Teil lustige Namen wie in Fabeln tragen, ist er ebenso ernst, wie er einfach, groß und menschlich ist. Das Fehlen der Naivität zeigt sich etwa in der Thematisierung der Nationalitäten im sowjetischen und postsowjetischen Raum. Als Sabirä noch klein ist, verliert ihr Vater Nemät einmal seinen Pass. Er lässt dann in das Ersatzdokument nicht „Uigure“, sondern „Usbeke“ eintragen. Es sei doch egal, ob man so oder so genannt werde, behauptet er. Doch die aufgeweckte kleine Sabirä wendet ein, dass alle Uiguren in Yalpuz zwar Usbeken werden wollten, keiner von den dortigen Usbeken aber je auf den Gedanken komme, sich zum Uiguren zu erklären. Damit entlarvt sie die Diskriminierung der Uiguren und die Scheinheiligkeit der sowjetischen „Völkerfreundschaft“-Legende, von der heute nicht viel mehr übriggeblieben ist als Putins verbrecherischer Versuch, sie für seine neoimperialistischen Zwecke zu instrumentalisieren.

Was es mit dem „Flugzeug“ in Ibragimovs großartigem kurzen Roman auf sich hat, konnte ich übrigens nicht herausbekommen. Dazu müsste man ihn wohl lesen.

Quellen

Ibragimov 2009. Ibragimov, Israyil: Jüjä vä samolet [Das Küken und das Flugzeug]. Bischkek: Turar.