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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Zeit für einen anderen Blick auf den Südkaukasus

4. April 2023

Die Wahrnehmung der Lage im Südkaukasus durch die sogenannten „Qualitätsmedien“ ist nach wie von einer nahezu komplett einseitigen Parteinahme für die armenische Seite geprägt. Dabei bietet sich an vielen Stellen eine differenzierte Herangehensweise an.

In einem aktuellen Beitrag analysiert Andreas Rüesch in der NZZ die aktuellen Entwicklungen im Südkaukasus. Er geht von der zweifellos zutreffenden Beobachtung aus, dass sich die Situation dort gerade wieder einmal anspannt.

Der Ukrainekrieg hat gleich in mehrfacher Hinsicht dazu beigetragen, dass sich das Verhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan zuungunsten der Armenier verändert hat. Man kann leicht einige konkrete Gründe dafür finden. So interessiert sich die ohnehin mit einer nur kurzen Aufmerksamkeitsspanne gesegnete Weltöffentlichkeit angesichts des Ukrainekriegs und anderer globaler Krisen derzeit sogar noch weniger für den Südkaukasus als früher (wobei die Aufmerksamkeit auch damals schon sehr gering war). Aufgrund des von ihm selber angezettelten Kriegs kann Russland außerdem seine traditionelle Rolle als beherrschender Beschützer Armeniens nicht mehr so gut ausfüllen, auch in militärischer Hinsicht. Und nicht zuletzt sieht sich der Westen seit dem 24. Februar 2022 verstärkt nach Alternativen zu russischen Energielieferungen um, auch in Aserbaidschan, wohingegen Armenien dem Westen kaum etwas zu bieten hat.

Es ist wenig überraschend, dass Aserbaidschan diese für es auf einer lokalen Ebene günstigen Entwicklungen ausnutzt, indem es Armenien zu einer nachhaltig formalisierten Beerdigung der jahrzehntelangen Spannungen drängt. In dieser Situation versucht Armenien seinerseits, die Stärkung der aserbaidschanischen strategischen Position zu unterminieren. Da dem verarmten und von Russland abhängigen Land die entsprechenden ökonomischen und militärischen Mittel fehlen, verlegt es sich auf politische und diplomatische Manöver und vor allen den Versuch, die eigene Sicht auf die Dinge in internationalen, auch westlichen Medien möglichst nachdrücklich zur Sprache zu bringen. Hierbei kommt den Armeniern die über Jahrzehnte gewachsene Dominanz proarmenischer Sichtweisen in westlichen Medien, Kulturkreisen und Politik zugute.

In gewissen Teilen ist der Beitrag Rüeschs durchaus ausgewogen und folgt sogar wesentlichen Positionen der aserbaidschanischen Seite. So wird etwa recht treffend von dem „armenischen Pseudostaat Nagorni Karabach“ gesprochen, der sich in Aserbaidschan etabliert hatte. Man kann Rüesch nicht vorwerfen, dass er die Aktivitäten der armenischen Separatisten in Karabach rechtfertige.

Es fällt jedoch dennoch nicht schwer, in dem Beitrag Spuren für Armenier voreingenommener Narrative nachzuweisen.

Eine davon ist die konsequente Einseitigkeit der Opferperspektive: Es gibt nur Erzählungen über armenische Opfer in der Vergangenheit und Gegenwart, aber keine einzige Bemerkung über aserbaidschanische. Der Gedanke, dass Armenier nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein können, existiert nicht.

Eine weitere für pro-armenische Sichtweisen typische Sichtweise ist der Versuch, die christlich-historische Karte auszuspielen. Dies geschieht unter anderem durch einen Hinweis auf das christliche Kloster Tatew aus dem 9. Jahrhundert. Dass die Gegend seit dem 7. Jahrhundert aber nicht nur eine christliche, sondern auch eine muslimische Geschichte hat, kommt nicht vor.

Eine der eher fragwürdigen Thesen von Rüeschs Artikel lautet, dass Aserbaidschan sich nicht mit der Rückeroberung seiner armenisch besetzten Gebiete begnüge, sondern die Absicht habe, sich Territorien der Republik Armenien einzuverleiben, „denn nun steht erstmals nicht nur das Schicksal des umstrittenen Gebiets Nagorni Karabach im Vordergrund – infrage gestellt wird das Territorium des Mutterlandes Armenien selber.“ Dass Armenien beziehungsweise die mit seiner Hilfe in Aserbaidschan operierenden Separatisten bis zum Jahr 2020 sieben aserbaidschanische Bezirke, etwa ein Fünftel des aserbaidschanischen Staatsgebiets, illegal okkupiert hatten, wird hierbei ganz weggelassen. Dabei ist das „Schicksal des umstrittenen Gebiets“ evidentermaßen bereits vor der Befreiung großer Gebiete Aserbaidschans im Jahr 2020 infrage gestellt worden, nur eben nicht durch Aserbaidschan, sondern durch die von Armenien unterstützten Separatisten. Der in beiden Fällen (der armenischen Besatzung von ca. 1991 bis 2020 und dem imaginierten Fallbeispiel einer mutmaßlichen Infragestellung der armenischen territorialen Unversehrtheit durch Aserbaidschan) aus völkerrechtlicher Perspektive identische Vorgang, nämlich die Infragestellung der territorialen Souveränität, wird von Rüesch nur in einem Fall angeprangert, nämlich dort, wo er sich auf hypothetisches Verhalten Aserbaidschans bezieht. Dass mit Armenien verbundene Akteure denselben Vorgang dreißig Jahre lang praktiziert haben (es sich also im Gegensatz zum rein theoretisch angenommenen Verhalten Aserbaidschans um historische Tatsachen handelt), dagegen wird nicht erwähnt, obwohl es sich diesmal nicht um eine bloße theoretische Konstruktion handelt, sondern um eine historische Tatsache. Es liegen also ganz klar verschiedene Maßstäbe für die Beurteilung aserbaidschanischen und armenischen Verhaltens vor. Der Artikel ist voreingenommen.

An anderer Stelle zitiert Rüesch historische Argumente der aserbaidschanischen Seite, etwa, dass Teile des heutigen Armeniens früher türkisch beziehungsweise aserbaidschanisch gewesen seien und zu „West-Aserbaidschan“ gehörten. Zu Recht weist Rüesch darauf hin, wie bedrohlich dies alles aus Sicht der Armenier wirken muss.

Aus meiner Sicht wäre es bei der Darstellung der konträren Positionen beider Staaten einerseits angemessen, die Möglichkeit zu bedenken, dass jegliche Aussagen einer der beiden Seiten auch einen strategischen und rhetorischen Aspekt haben. Ob Gerede von einer Einverleibung Armeniens durch Aserbaidschan wirklich eine reale Grundlage hat, mag dahingestellt sein, wirkt auf Anhieb aber eher unrealistisch, gerade wenn man aus den USA in jüngster Zeit an Armenien gegebene Signale liest. Anderseits wäre es passend, dass man, wenn schon auf historische Perioden eingegangen wird, dies in einer einigermaßen kohärenten und ausgewogenen Weise geschieht. Von einer Zeitung mit dem Niveau der NZZ sollte man erwarten, dass zwischen rhetorischen Wortkanonen und tatsächlichen Absichten oder gar Taten etwas sorgfältiger unterschieden wird. Floskeln wie „unser historisches Land“ findet man nicht nur in diesem, sondern auch in vielen anderen vergleichbaren Konfrontationen zuhauf auf allen Seiten.

Dass es der Artikel mit der Ausgewogenheit nicht so genau nimmt, wird auch an einer Stelle deutlich, wo in Bezug auf den Sangesur (aserbaidschanisch: Zәngәzur) festgestellt wird, dass man hiermit „den alten türkischen Namen für Südarmenien verwendet“. Da es also selbst nach Ansicht der NZZ einen „alten türkischen Namen“ für Südarmenien gibt, kann die an anderer Stelle im Zusammenhang mit dem Kloster Tatew betonte „auf das 9. Jahrhundert zurückgehende“ „christlich-armenische Präsenz in dieser Region“ logischerweise nicht vollkommen kontinuierlich, lückenlos und eindeutig sein. Dies hätte konsequenterweise dazu führen müssen, dass man eben auch den muslimischen, aserbaidschanischen, türkischen Teil der Kulturgeschichte der Region als bedeutsamen Faktor würdigt. Wenn man es etwas deutlicher und näher an den historischen Tatsachen formuliert, könnte man auch sagen, dass es bis 1918 in der Gegend weder ein Armenien noch ein Südarmenien gab, sondern lediglich russisch annektierte Gebiete, die vor der russischen Eroberung über Jahrhunderte hinweg kulturell und politisch türkisch beziehungsweise aserbaidschanisch geprägt gewesen waren.

Rüesch bringt am Ende für seine Interpretation der südkaukasischen Geschichte sogar das gegenwärtig wohl größte mögliche Geschütz in Stellung, die Putin-Keule. Im Zusammenhang mit Äußerungen Ilham Aliyews schreibt er: „Das weckt Erinnerungen an Putins Vorgehen, den ukrainischen Staat zunächst in Reden als Irrtum der Geschichte abzutun und danach militärisch zur Tat zu schreiten.“ Auch wenn dies erneut eine bloße Unterstellung ist, kann man dem Autor doch auch hier den Vorwurf der Einseitigkeit nicht ersparen. Denn wenn es ihm wirklich um Kritik am Prinzip der Delegitimierung der Geschichte zum Zweck der anschließenden militärischen Okkupation ginge, hätte auch das Verhalten armenischer Nationalisten in Armenien, Karabach und der Diaspora in den 1980er und 1990er-Jahren in den Sinn kommen können, die in ähnlicher Weise die rechtliche beziehungsweise völkerrechtliche Zugehörigkeit von Teilen Karabachs zu Aserbaidschan in Frage stellen wollten (was ihnen, nebenbei bemerkt, niemals gelungen ist, weder zu Zeiten der Sowjetunion noch später, als nicht einmal Armenien die Separatistenhochburg in Karabach anerkannte). Die aus der armenischen Gemeinschaft hervorgehende Anstachelung romantisierender, zum großen Teil phantasmagorischer historischer Diskurse, die Entfachung einer schwärmerisch-nationalistischen Massenbewegung, die schließlich zur separatistischen Infragestellung der aserbaidschanischen territorialen Integrität führte, ähneln in frappierender Weise dem, was Putins Russland ab den 2010er-Jahren im Osten der Ukraine veranstaltet hat. So gesehen, könnte man eher für einen Vergleich Armeniens als Aserbaidschans mit Putinrussland plädieren.

Merkwürdig wirkt der Vergleich, den Rüesch zwischen Ilham Aliyev und Putin vornimmt, an sich schon deshalb, weil die armenische Community ihre separatistischen Aktivitäten in Aserbaidschan beziehungsweise Karabach überhaupt erst dank des russischen (zwischenzeitlich sowjetischen) Imperialismus entfalten und aufrechterhalten konnte. Rüeschs alarmistische Frage: „Wer könnte verhindern, dass Aserbaidschan seine Ziele gewaltsam erreicht?“ verschweigt, dass der armenische Separatismus in Aserbaidschan über Jahrzehnte hinweg extrem gewaltsam und brutal war und zahllose Opfer unter der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung gefordert hat. Es fehlt auch eine Erwähnung des Scheiterns der jahrzehntelangen Bemühungen (Stichwort „Minsk-Gruppe“), den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan auf diplomatischen Wege zu entschärfen, an dem sich Aserbaidschan jahrzehntelang beteiligte und versuchte, zu einer gewaltfreien Lösung zu kommen. Das Scheitern dieser Bemühungen führte aus aserbaidschanischer Sicht zu einer für sie vollkommen inakzeptablen Perpetuierung des durch den armenischen gewaltsamen Überfall in den 1990er Jahren herbeigeführten völkerrechtswidrigen Status Quo. Hierdurch erscheint die gewaltsame Option, für die sich Aserbaidschan 2020 entschied, bereits in einem anderen Licht, ebenso wie weitere gewaltsame Zusammenstöße, die sich aus der 2020 hergestellten Situation ergeben können, nämlich nicht als Ausdruck von Angriffslust, sondern als eine sich aus dem Verlauf frustrierender Jahrzehnte ergeben habende Handlungsoption. Rüesch stellt Aserbaidschan jedoch nicht als einen Akteur dar, der mit Gewalt reagiert, sondern als einen, der von sich aus, quasi apriorisch mit Gewalt agiert, der seine Ziele gewaltsam erreichen will, mithin als Aggressor. Es liegt auf der Hand, dass hier mit Hilfe der Verkürzung historischer Zusammenhänge ein Schuldnarrativ konstruiert wird.

Natürlich steht es Rüesch frei, als eine der möglichen Erklärung für die Besetzung strategischer Höhen durch Aserbaidschan (zu den anderen gehören militärstrategische Überlegungen) zu spekulieren, dies könne unter anderem auch dazu dienen, „die Bevölkerung zu terrorisieren“. Doch in Abwesenheit irgendwelcher Andeutungen oder Belege (die es nicht geben kann, weil es ein reines Gedankenspiel ist) eine solche Behauptung aufzustellen, durch die Aserbaidschan faktisch unterstellt wird, ein Terrorstaat zu sein, dient weder dem Verständnis des Konflikts noch eröffnet es Wege zu seiner möglichen Beilegung. Es trägt allein zur Verteufelung der aserbaidschanischen Seite bei. Dass Armenien während des 2020er 44-Tage-Kriegs selbst zivile Ziele in Aserbaidschan, und zwar teilweise weit außerhalb der umkämpften Zonen, angegriffen und dabei zahlreiche Todesopfer verursacht hat, wäre demgegenüber eine nicht spekulative, aber für die Objektivierung der Perspektive hilfreiche Ergänzung.

Zum Schluss möchte ich noch betonen, dass die in den Text, wenngleich als Zitat, eingebaute stigmatisierende Verwendung des Wortes „Türke“ sich in einem liberalen, auf Respekt aller Seiten zielenden Diskurs nicht besonders sympathisch ausmacht.