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Michael Reinhard Heß

Turkologe · Autor · Übersetzer

Die Mythisierung der Karabachseparatisten geht weiter

26. September 2023

Während es in der deutschen Presse- und Politiklandschaft abgesehen von den üblichen hufeisenförmigen Rändern der Gesellschaft Gott sei Dank kaum jemanden gibt, der Russlands Angriff auf die Ukraine gutheißt oder verteidigt, gibt es erstaunlicherweise so gut wie niemanden, der das analoge Verhalten der armenischen Separatisten in Karabach, das jetzt augenscheinlich zu seinem Ende gebracht worden ist, mit ähnlicher Deutlichkeit kritisiert.

Zur Erinnerung: Vor mehr als 30 Jahren hatten armenische Separatisten Teile Aserbaidschans besetzt, Tausende, darunter zahlreiche Zivilisten, auf zum Teil gezielt barbarische Weise ermordet, Hunderttausende Aserbaidschaner vertrieben und sich ansonsten vor allem durch die Vernichtung kulturellen Erbes hervorgetan.

Es wäre daher gerecht, wenn allgemein auch in Bezug auf Karabach Täter und Opfer so klar benannt würden, wie dies in Bezug auf Russland und die Ukraine der Fall ist.

Stattdessen wird die Täterrolle der armenischen Separatisten von Karabach und der sie tragenden nationalistischen und chauvinistischen Kreise in einigen Beiträgen auch führender deutscher Medien immer noch bewusst heruntergespielt, und die Umstände, unter denen jene Nationalisten in der Lage waren, ihre blutige Besetzung von Teilen Aserbaidschans durchzusetzen, in für sie vorteilhafter, oft lückenhafter und tendenziöser Weise nacherzählt.

Ein Beispiel liefert die jüngste Kolumne des SPIEGEL-Autors Mikhail Zygar (siehe Link).

Sein Geschichtskonstrukt über den armenischen Separatismus in Karabach baut stark auf der Figur des sowjetischen Physikers, Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrej Dmitrievič Sacharov (1921-1989) auf.

Dies wird dadurch bewerkstelligt, dass in dem Beitrag, der Sacharov als den „sowjetischen Gandhi“ verherrlicht, jegliche Hinweise darauf fehlen, dass der berühmte Wissenschafler durch die Wiedergabe evidentermaßen falscher historischer Behauptungen entscheidend zum Anfachen des Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan beigtragen hat. Dies tat Sacharov, indem er sich 1988 durch mehrfache öffentliche Äußerungen in den Dienst nationalistischer Gruppierungen wie des „Karabach-Komitees“ stellte.

Zu den von Sacharov damals verbreiteten Falschbehauptungen gehört, dass „Bergkarabach“ 1923 mit der Aserbaidschanischen SSR „vereinigt“ worden sei. Zur Rolle Sacharovs in diesem Zusammenhang habe ich an anderer Stelle schon mehr geschrieben (

https://www.gulandot.de/mrhess/texte/sumgait-35-jahre-danach/).

In diesem Zusammenhang spricht die Tatsache, dass Sacharov ein bedeutender Physiker und Nobelpreisträger war, keinesfalls für, sondern vielmehr gegen ihn. Denn er hat sein (auch internationales) enormes Prestige ja in den Dienst der historischen Mythenbildung armenischer Ultranationalisten gestellt. Die Akzeptanz dieser Mythisierung durch breite Teile der armenischen Bevölkerung in Karabach, Armenien und in der Diaspora war eine der wichtigsten Voraussetzungen für den langjährigen ,Erfolgʻ der separatistischen und militanten armenisch-nationalistischen Bewegungen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre. Dieser führte dann unter anderem zum Massenmord von Chodschali im Jahr 1992, bei dem armenische Truppen (wenn man den Worten des Kriegsverbrechers Serzh Sargsyan glaubt, mit absichtlicher Grausamkeit) 613 aserbaidschanische Zivilisten (die Zahl richtet sich nach der offiziellen Statistik Aserbaidschans) töteten.

Durch eine unkritische, die historische Persönlichkeit Sacharovs durch ein in den westlichen Medien und in der armenischen Öffentlichkeit gezeichnetes Wunschbild ersetzende Überhöhung in Verbindung mit der unausgesprochenen, aber implizit gemachten Behauptung, dass ein Friedensnobelpreisträger zwangsläufig immer auf der Sache der Gerechten und des Friedens stehen müsse, gelingt es Zygar für die Dauer seines Textes, die aktive und überaus wichtige Rolle, die Sacharov bei der Ausbreitung armenisch-nationalistischer Ideen am Ende der 1980er gespielt hat, vergessen zu machen. Letzten Endes wiederholt er damit noch einmal den Propaganda-Coup, die separatistisch gesinnten Armenier landeten, indem sie den schon alternden Sacharov als Aushängeschild für ihr Projekt gewannen.